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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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und Detlan war mit seiner kleinen Schwester gekommen, um ihnen zum Abschied zuzuwinken. Er hatte seine Krücken so heftig geschwungen, dass er sich um ein Haar in den Sand gesetzt hätte.
    Das war erst gestern gewesen.
    Oben auf dem Kamm wuchsen Eberesche und Wacholder wild durcheinander, doch das Gestrüpp wich alsbald einem breiten Felsvorsprung, der wie ein flaches Langboot über das Meer hinausragte. Vor langer Zeit war in die glatte Oberfläche ein silbernes Netz von Jagdszenen gemeißelt worden. In der Mitte des Felsens stand ein niedriger steinerner Altar.
    Torak schluckte. Vor zwei Sommern hatte ihn der Robbenschamane an diesen Altar gefesselt und ihm das Herz herausschneiden wollen. Er spürte immer noch, wie sich der scharfkantige Stein in seine Schulterblätter bohrte, hörte immer noch das Scharren der Klauen der Tokoroths.
    Vom Fuße der Klippen schallte ein durchdringender, herzzerreißender Schrei herauf. Torak hielt den Atem an. Bales Vater hatte seinen Sohn gefunden.
    Denk jetzt nicht daran. Denk daran, wer hier oben war. Das bist du Bale schuldig.
    Tau schimmerte auf der Klippe. Bis auf eine sonderbare Kruste aus Flechte oder Mauerpfeffer war das Felsgestein völlig kahl. Es würde schwer sein, hier eine Spur zu finden, aber falls der Mörder eine Spur hinterlassen hatte, würde Torak sie ausfindig machen.
    Vom Kamm aus warf er einen Blick über die Klippe. Irgendwas stimmte nicht, aber er kam einfach nicht dahinter, was ihn irritierte. Darum würde er sich später kümmern. Zunächst ging er zum Klippenrand hinüber. Fa pflegte immer zu sagen, dass man sich als Jäger in den Geist der Beute hineinversetzen müsse, Worte, die nun eine neue, schreckliche Bedeutung bekamen. Torak musste sich Bale lebend auf dieser Klippe vorstellen. Er musste sich den gesichtslosen Mörder vorstellen.
    Nur ein kräftiger Mann hatte Bale überwältigen können, mehr wusste Torak noch nicht. Die Klippe würde ihm hoffentlich die ganze Wahrheit verraten.
    Bald schon hatte er ein erstes Zeichen gefunden. Er ging in die Hocke und spähte mit schmalen Augen in das seitlich einfallende Morgenlicht. Ein sehr schwacher Stiefelabdruck. Und dort drüben, kaum wahrnehmbar, ein zweiter Abdruck. Ältere Männer gingen auf den Fersen, jüngere eher auf den Zehen. Bale hatte die Klippe leichtfüßig überquert.
    Torak folgte der Spur seines Freundes Schritt für Schritt. Er war so versunken, dass er darüber vollkommen die Stimme des Meeres und den salzigen Wind vergaß.
    Das Gefühl, beobachtet zu werden, holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er verharrte mit pochendem Herzen. Hielt sich Bales Mörder womöglich immer noch zwischen den Ebereschen verborgen?
    Er zückte blitzschnell sein Messer und wirbelte herum.
    »Torak, ich bin’s!«, rief Renn.
    Torak stieß den angehaltenen Atem aus und senkte die Klinge. »Mach das nie wieder.«
    »Ich dachte, du hättest mich gehört.«
    »Was machst du überhaupt hier oben?«
    »Dasselbe wie du!« Sie war wütend, weil er sie so erschreckt hatte, erholte sich aber rasch. »Bale ist nicht gestürzt. Seine Fingernägel …« Sie sahen einander wortlos an, und Torak fragte sich, ob er ebenso bleich und angespannt aussah wie Renn.
    »Wie konnte das passieren?«, fragte sie. »Ich dachte, du wärst bei ihm gewesen.«
    »Nein.«
    Er wich ihrem Blick aus. »Geh du voran«, sagte sie schließlich in verändertem Tonfall. »Du bist der bessere Spurenleser.«
    Mit aufmerksam gesenktem Kopf nahm er die Suche erneut auf und Renn folgte ihm. Wenn Torak Spuren las, schwieg sie meistens. Sie behauptete, er befände sich dann in einer Art Trance, die sie nicht stören wolle. Heute war er besonders dankbar dafür. Mitunter nahmen Renns tiefdunkle Augen viel zu viele Dinge wahr, und gerade jetzt hätte er es nie und nimmer über sich gebracht, ihr von seinem Streit mit Bale zu erzählen. Sein eigenes Verhalten beschämte ihn zu sehr.
    Er brauchte nicht weit zu gehen, um weitere Spuren zu entdecken. Ein Flechtenkrümel, von einem achtlosen Stiefel abgeschabt, und hinter dem Altar ein grüner Schmierfleck von zerquetschtem Mauerpfeffer. Außerdem hatte sich ein einzelnes Haar aus dem Fell eines Rotwildes in einer winzigen Spalte verfangen. Torak überlief ein Kribbeln. Bale hatte Robbenhaut getragen. Dieses Haar musste seinem Mörder gehört haben. Allmählich formten sich die Umrisse einer Gestalt, wie ein Jäger, der langsam aus dem Nebel auftaucht. Ein großer, schwerer Mann, in Rotwildleder
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