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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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Bale einfach nicht gegenübertreten. Ebenso wenig wie Fin-Kedinn oder Renn.
    Als er sich tiefer in die Jacke mummelte, bohrte sich etwas in seine Seite. Es war Bales Löffel, den er ihm vor seinem überstürzten Aufbruch heimlich in den Gürtel geschoben haben musste. Torak drehte ihn zwischen den Fingern. Er war sorgsam mit eng gewickelter Sehne zusammengefügt, deren Ende Bale säuberlich in die Bindung gesteckt hatte.
    Er atmete lang und tief aus. Am Morgen würde er zu Bale zurückpaddeln und sich entschuldigen. Bale würde ihn bestimmt verstehen. In dieser Hinsicht war er sehr umgänglich. Er trug einem nichts nach.
    Torak schlief schlecht. In seinen Träumen vernahm er den Ruf einer Eule, und Renn erzählte ihm etwas, das er nicht verstand.
    Irgendwann nach Mitternacht wachte er auf. Es war die Stunde des dunklen Mondes, der gerade vom Himmelsbären gefressen worden war, und nur ein leiser Schimmer Sternenlicht schaukelte auf den stillen Wellen. Er musste aufbrechen. Er musste zur Robbenbucht, die Klippen hinaufklettern und Bale finden.
    Zerschlagen und müde baute er den Unterschlupf ab und sandte das Feuer mit einer Handvoll Wasser schlafen. Widerwillig breiteten Rip und Rek die Flügel aus und sträubten das Gefieder, um ihm zu zeigen, was sie von diesem frühen Aufbruch hielten. Doch als Torak sein Boot zum Ufer trug und davonpaddelte, hörte er das kräftige, gleichmäßige Rauschen der Rabenschwingen.
    Im Osten zeichnete sich die Sonne wie eine leuchtend rote Messerwunde zwischen Meer und Himmel ab. Die Robbenbucht allerdings lag noch in tiefem Schatten, die Klippe ragte in das besternte Dunkel. Die Möwen schliefen und in den Robbenzelten rührte sich nichts. Nur der Wasserfall durchbrach die Stille, das gleichmäßige Schwappen der gegen das Ufer laufenden Wellen und die Dorsche, die leise knarrend an den Holzgestellen hin und her schwangen.
    Torak legte am Nordende der Bucht an. Muschelschalen zerbrachen mit sanftem Knirschen unter seinen Füßen, er atmete den stechenden, bitteren Geruch zugeschütteter Feuer ein. Von ihren Holzgestellen glotzten ihn die Dorsche aus leeren, salzverkrusteten Augen an.
    Rek stieß einen ungeduldigen Ruf aus. Sie hatte Beute erspäht und die beiden Raben flogen zu den Felsbrocken am Fuße der Klippe hinüber.
    In der Dunkelheit konnte Torak nicht erkennen, was sie gefunden hatten, aber mit einem Mal sträubten sich ihm die Nackenhaare.
    Was immer es war, Rip und Rek hüpften vorsichtig darauf zu und flogen dann ein Stück zurück.
    Torak sagte sich, dass es sich um alles Mögliche handeln konnte, aber er rannte los, stolperte durch ganze Hügel aus fauligem Seegras. Dann stieg ihm der unverkennbare, ekelhaft süßliche Geruch in die Nase. Er sank auf die Knie.
    Nein. Nein.
    Er musste laut geschrien haben, denn die Raben flogen aufgeschreckt krächzend davon.
    Nein.
    Er kroch langsam näher. Seine Finger berührten etwas Nasses, färbten sich rot. Er sah weiße Knochensplitter und Spritzer einer grauen, schleimigen Flüssigkeit. Er sah die Dunkelheit durch das lange helle Haar sickern, in das blaue Schieferperlen und Gräten eingeflochten waren. Er sah das vertraute Gesicht mit blindem Blick gen Himmel starren.
    Manchmal gibt es keine Vorwarnung. Überhaupt keine.

Kapitel 2

    Das träume ich alles nur, dachte Torak.
    In Wirklichkeit starrte er gar nicht auf diese klauenartig verkrümmten Finger und das schwarze Blut unter den Nägeln. Das war unmöglich.
    Auf den Klippen schrie eine Möwe und Torak hob den Kopf. Hoch oben, am Rand der Klippe, hing ein Wachholderbusch in die Tiefe. Er stellte sich Bale auf den Knien vor, wie er sich zu weit vornüberbeugt. Wie er verzweifelt den Busch packt, der langsam und unaufhaltsam nachgibt, bis er sich mit einem grausamen Ruck löst. Wie Bale auf die Steinbrocken weit unten zustürzt.
    Ach, Bale. Warum bist du so nahe an den Abgrund gegangen?
    Eine kühle Brise strich ihm über den Nacken. Er erschauerte. Bales Seelen waren noch nahe und sie waren wütend. Wütend auf ihn, Torak. Wenn du bei mir geblieben wärst, hätte ich nicht sterben müssen.
    Torak schloss die Augen.
    Todeszeichen. Ja. Die Seelen mussten vereint bleiben, sonst würde Bale zu einem Dämon oder Geist werden.
    Zumindest das kann ich für dich tun, dachte Torak.
    Mit vor Kälte starren Fingern nestelte er den Medizinbeutel auf und schüttelte ihn. Das Medizinhorn seiner Mutter und der kleine Muschellöffel fielen heraus. Er blinzelte die Tränen weg. Er hatte Bale
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