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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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einen Eintopf zu. Torak füllte sein Kochleder mit Wasser, befestigte es mit Stöcken über dem Feuer und gab in der Asche erhitzte Kiesel ins Wasser. Bale warf eine Handvoll violettes Meermoos, das er in einem Felstümpel entdeckt hatte, und ein paar Muschelwürmer, die er im Sand ausgegraben hatte, hinzu und Torak etwas Meerkohl, weil dessen grüne Farbe ihn an den Wald erinnerte.
    Während sie warteten, dass der Eintopf gar wurde, hockte sich Torak am Feuer nieder und hielt die tauben Finger in die Wärme. Bale bastelte derweil aus einer Muschelhälfte einen Löffel. Er drückte einen Tangstängel hinein und befestigte ihn mit Robbensehnen aus seinem Nähbeutel.
    »Guten Fang für euch!«, rief plötzlich eine Stimme vom Meer, und die beiden zuckten erschrocken zusammen.
    Ein Fischer vom Kormoranclan paddelte in seinem Hautboot vorbei. Sein Netz aus Walrosshaut war prall mit Heringen gefüllt.
    »Auch dir einen guten Fang!«, erwiderte Bale den unter den Clans des Meeres üblichen Gruß.
    Der fremde Fischer paddelte langsam ins flachere Wasser, warf Torak einen Blick zu und musterte dann neugierig die dünnen schwarzen Linien auf seiner Wange. »Wer ist denn dein Freund aus dem Wald?«, fragte er Bale. »Sind das nicht Tätowierungen vom – Wolfsclan?«
    Torak setzte zu einer Antwort an, doch Bale kam ihm zuvor: »Er ist mein Blutsbruder und Fin-Kedinns Ziehsohn. Er jagt mit den Raben.«
    »Ich gehöre nicht zum Wolfsclan«, sagte Torak. »Ich bin clanlos.« Er starrte den Mann trotzig an. Sollte er davon halten, was er wollte.
    Der Fischer deutete auf die Feder des Totemtiers an seiner Schulter. »Ich habe schon von dir gehört. Du bist derjenige, den sie den Ausgestoßenen nennen.«
    Unwillkürlich berührte Torak seine Stirn an der Stelle, wo das Band das Zeichen des Ausgestoßenen verdeckte. Fin-Kedinn hatte die Tätowierung inzwischen verändert, sodass sie Torak nicht mehr als Ausgestoßenen brandmarkte. Aber nicht einmal der Anführer der Raben konnte die Erinnerung auslöschen.
    »Die Clans haben ihn wieder aufgenommen«, erklärte Bale.
    »So heißt es«, gab der Mann zurück. »Nun ja. Einen guten Fang, jedenfalls.« Der Gruß war nur an Bale gerichtet. Torak warf er lediglich einen skeptischen Blick zu, ehe er davonpaddelte.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Bale nach kurzem Schweigen.
    Torak gab keine Antwort.
    »Hier.« Bale warf ihm den Löffel zu. »Du hast deinen im Lager vergessen. Und mach nicht so ein Gesicht! Der Kerl ist ein Kormoran. Was wissen die schon?«
    Torak schürzte verächtlich die Lippen. »Ungefähr so viel wie die Robben.«
    Bale warf sich mit einem Hechtsprung auf ihn, und schon rollten sie, ineinander verkeilt und lachend, über den Kiesstrand, bis Torak Bale im Schwitzkasten hatte und ihn um Gnade betteln ließ.
    Sie aßen schweigend und spuckten gelegentlich ein paar Stücke für Rip und Rek aus. Dann legte sich Torak auf die Seite und ließ sich vom Feuer rösten, das Bale mit Treibholz fütterte. Der Robbenjunge bemerkte nicht, dass Rip steifbeinig von hinten heranstelzte. Beide Raben waren fasziniert von Bales langem blondem Zopf, in den er blaue Schieferperlen und kleine Kapelangräten eingeflochten hatte.
    Rip nahm eines der winzigen Fischknöchlein in den Schnabel und zerrte kräftig daran. Bale schrie empört auf. Rip ließ los und senkte mit halb ausgebreiteten Schwingen unterwürfig den Kopf: ein armer Rabe, zu Unrecht beschuldigt! Bale lachte und warf ihm ein Stück Muschelwurm zu.
    Torak lächelte. Es war schön, wieder mit Bale zusammen zu sein. Der Robbenjunge war wie ein Bruder für ihn, zumindest so, wie sich Torak einen Bruder vorstellte. Sie hatten die gleichen Interessen und lachten über dieselben Scherze, waren aber zugleich sehr unterschiedlich. Bale war beinahe siebzehn Sommer alt. Er würde sich bald eine Gefährtin suchen und seine eigene Hütte bauen. Da die Robben niemals weiterzogen und anderswo ein neues Lager aufschlugen, würde er, von einigen kurzen Reisen zum Tauschen und Handeln in den Wald abgesehen, sein ganzes Leben auf diesem schmalen Sandstrand in der Robbenbucht verbringen.
    Immer am selben Ort bleiben. Allein bei dem Gedanken schnürte es Torak die Kehle zu. Andererseits … was für eine Gewissheit. Das ganze Leben lag vor einem wie ein sonnenbeschienenes Robbenfell. Mitunter fragte er sich, was das für ein Gefühl sein mochte.
    Bale spürte den Stimmungsumschwung seines Freundes und fragte ihn, ob er den Wald vermisse.
    Torak
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