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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City
Autoren: Alastair Reynolds
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konnte ihr Gesicht in dem deckenhohen Spiegel sehen. Sie wartete immer noch auf eine Antwort auf die Frage, die sie mir eben gestellt hatte. Aber ich hatte weder sie noch ihre Frage vergessen. Ich staunte nur, wie etwas, das mir einst so fremd gewesen war, jetzt so vertraut sein konnte.
    Die Stadt hatte sich seit meiner Ankunft nicht sehr verändert.
    Es musste also an mir liegen.
    Der Regen vom Moskitonetz klatschte in harten, schrägen Strichen gegen das Fenster. Angeblich hörte es in Chasm City nie ganz auf zu regnen, und vielleicht stimmte das auch, aber die Aussage machte nicht deutlich, wie viele verschiedene Niederschlagsformen es gab. Manchmal kam der Regen gerade und weich herunter wie ein kühler, reiner Gebirgsschauer. Manchmal, wenn die Dampfsperren um den Abgrund geöffnet wurden und die Druckwellen stoßweise über die Stadt jagten, peitschte er fast waagerecht daher und war so ätzend wie ein Entlaubungsmittel.
    »Mister Mirabel…«, sagte sie.
    Ich wandte mich vom Fenster ab. »Entschuldigen Sie. Ich war ganz in die Aussicht vertieft. Wo waren wir stehen geblieben?«
    »Sie wollten mir von Sky Haussmann erzählen, wie er…«
    Ich hatte ihr bereits geschildert, wie Sky meiner Meinung nach sein Versteck verlassen und als Cahuella ein neues Leben angefangen hatte, und viel mehr wollte ich auch nicht preisgeben. Es war schon ungewöhnlich genug, dass ich überhaupt von diesen Dingen sprach – besonders zu einer potenziellen neuen Mitarbeiterin –, aber sie gefiel mir, und sie hatte eine ungewöhnliche Bereitschaft gezeigt, mir zuzuhören. Wir hatten ein paar Pisco Sour getrunken – auch sie kam von Sky’s Edge – und so war uns die Zeit wie im Flug vergangen.
    »Nun?«, unterbrach ich sie. »Wie viel von der Geschichte würden Sie glauben?«
    »Ich weiß es nicht, Mister Mirabel. Wie wollen Sie das alles erfahren haben, wenn die Frage gestattet ist?«
    »Ich lernte Gitta kennen«, sagte ich. »Und sie sagte mir etwas, das mich überzeugte, dass Constanza die Wahrheit sprach.«
    »Sie meinen, Gitta hat vor allen anderen herausgefunden, wer Cahuella wirklich war?«
    »Ja. Ich halte es gut für möglich, dass sie zufällig Constanzas Aussage gefunden hat. Das führte sie zu Cahuella, obwohl seit Skys vermeintlicher Hinrichtung mindestens zwei Jahrhunderte vergangen waren.«
    »Und als sie ihn fand?«
    »Sie erwartete einen Unmenschen, aber ihre Erwartungen erfüllten sich nicht ganz. Er war nicht mehr der Mann, den Constanza gekannt hatte. Ich glaube, Gitta war bereit, ihn zu hassen, aber sie konnte es nicht.«
    »Wieso konnte sie eigentlich so sicher sein, ihn gefunden zu haben?«
    »Vermutlich sein Name. Er hatte ihn aus der Legende des Gespensterschiffes übernommen; er konnte die Verbindung zu seiner Vergangenheit nicht gänzlich kappen. Cahuella war der Delphin der Caleuche.«
    »Jedenfalls eine interessante Theorie.«
    Ich zuckte die Achseln. »Aber mehr wahrscheinlich auch nicht. Glauben Sie mir, wenn Sie länger hier leben, werden sie noch ausgefallenere Geschichten hören.«
    Sie war erst vor kurzem auf Yellowstone eingetroffen; sie war wie ich Soldat, aber sie war nicht wegen irgendeines Auftrags auf dem Planeten, sondern auf Grund eines Versehens.
    »Wie lange leben Sie schon hier, Mister Mirabel?«
    »Seit sechs Jahren«, sagte ich.
    Wieder sah ich aus dem Panoramafenster. Die Aussicht auf die Stadt hatte sich nicht sehr verändert, seit ich von Refugium zurückgekommen war. Das Dickicht des Baldachins sah immer noch aus wie ein Querschnitt durch eine Lunge: ein dichtes, schwarzes Knäuel vor dem braunen Hintergrund des Moskitonetzes. Man redete davon, das Netz nächstes Jahr reinigen zu wollen.
    »Sechs Jahre, das ist eine lange Zeit.«
    »Nicht für mich.«
 
    Bei diesen Worten musste ich daran denken, wie ich in Refugium wieder zu mir gekommen war. Die Wunde, die Tanner mir beigebracht hatte, musste so stark geblutet haben, dass ich das Bewusstsein verlor, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt kaum etwas davon gespürt hatte. Jemand hatte mir die Kleider aufgeschnitten und auf den nahtähnlichen Schnitt, den sein Messer gezogen hatte, eine türkisblaue medizinische Salbe aufgetragen. Ich lag auf einem Bett, und einer der schlanken Servomaten beobachtete mich.
    Mein Körper war über und über mit Blutergüssen bedeckt und jeder Atemzug schmerzte. Mein Mund fühlte sich merkwürdig an, als gehörte er nicht mehr zu mir.
    »Tanner?«
    Das war Amelias Stimme. Gleich darauf trat sie in mein
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