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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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geschwungenen Lippen kräuselten sich. Dann ließ Leonoor das Gewehr los, fing es routiniert am Trageband auf und hängte es sich mit einer raschen Bewegung über die Schulter, mit dem Lauf nach unten. Sie riss den Umschlag auf, nahm das Blatt heraus und las den kurzen Text, der unter dem Briefkopf von Heleens Anwaltskanzlei stand.
    »Passt Ihnen das?«, fragte ich.
    Leonoor wandte sich ab, ging zehn Schritte auf das offene Stück Wiese, blieb dort stehen und starrte eine volle Minute lang vor sich hin. Ich sah, wie sie den Brief des Rechtsanwalts erneut öffnete und noch einmal las, als habe sie den Text beim ersten Mal nicht richtig verstanden oder durchsuche ihn auf Hintersinnigkeiten oder verborgene Fallstricke. Ihr heuschreckenhafter Bruder stand schweigend neben uns, den Hammer in der Hand. Er schaute seine Schwester mit dem abwesenden Ausdruck eines Menschen an, der gerade mal zwei Worte von einem komplizierten Gespräch verstanden hat.
    Ich verspürte wenig Mitleid mit Leonoor Brasma und auch keine Reue. Eine Frau mit einer doppelläufigen Jagdflinte im Wald war kein alltägliches Phänomen, doch wir hatten es sorgfältig vermieden, überrascht zu tun oder über ihr Schützentalent zu sprechen. Vielleicht machte sie das misstrauisch. Ich hoffte, dass ihr Gehirn genügend von der Aussicht auf eine Million Euro in Beschlag genommen wurde, um solche Kleinigkeiten zu übersehen.
    Endlich drehte Leonoor sich um. Ich sah einen triumphierenden Ausdruck in ihren Augen. »Gut«, beschloss sie. »Sagen Sie ihr, dass ich da sein werde.«
    »Mit Charlotte«, sagte ich.
    Sie nickte. »Natürlich.«
    Sie bot nicht an, uns zurückzubegleiten und mit ihr eine Tasse Kaffee in ihrem elterlichen Haus zu trinken. Einen Augenblick lang herrschte ungemütliches Schweigen, dann nahmen wir Abschied, ohne Händedruck.
     
    »Dieses Weib hat Charlotte mit keinem Wort erwähnt!«, bemerkte CyberNel, als wir nach Selm zurückfuhren. »Oder etwas darüber gesagt, dass Charlotte jetzt eine Familie dazubekommt, inklusive zweier Halbschwestern.«
    »Charlotte ist nicht in Gefahr, solange noch keine Erbschaft da ist.«
    »Manchmal bist du wirklich dumm«, erwiderte Nel.
    »Du hast Recht.« Ich blickte zur Seite. Nels Profil hob sich vor dem Hintergrund der vorbeiziehenden Landschaft ab. »Leonoor hat in dem Moment den Stein ins Rollen gebracht, als Charlotte ausziehen wollte.«
    »Die Frage ist, warum?«
    Ich dachte darüber nach. »Die Stimmung auf dem Boot wird sich verändert haben nach Elisabeths Tod.«
    »Futter für die Stiefmutter«, sagte Nel. »Vielleicht spürt Charlotte bewusst oder unbewusst, dass Leonoor etwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hat, und versucht, ihr deshalb aus dem Weg gehen. Sie hat gleich nach der Beerdigung wieder angefangen, bei Albert Heijn zu arbeiten. Sogar hier hat sie sich sofort eine Arbeit gesucht. Tut sie das, weil sie nicht in Leonoors Nähe sein will? Vielleicht hat Leonoor gehofft, die Mutterrolle übernehmen zu können oder sogar mehr als das, musste aber eine Zurückweisung hinnehmen.«
    »Dadurch würde alles logischer. Leonoor hat von Charlotte einen Korb bekommen und sie daraufhin einfach abgeschrieben. Das Einzige, was sie noch tun konnte, war, zu versuchen, von ihr zu profitieren.«
    »Indem sie dem Kind einen Vater präsentierte?«
    Ich nickte. »Es war uns immer schleierhaft, warum sie das tat. Das war die schnellste Art, Charlotte loszuwerden, gewiss, wenn Otto Runing sie anerkannt hätte. Und auf eine Leonoor als Dreingabe konnte seine Familie garantiert verzichten. Sie hätte sogar das Sorgerecht für Charlotte verloren. Aber all das war sowieso egal, wenn sie Charlotte schon verloren hatte. In diesem Fall wusste sie ganz genau, was sie tat.«
    »Halt!« Nel fasste mich am Arm. »Geert Wolters, das hört sich ziemlich niederländisch an.«
    Ich bremste und setzte ein Stück zurück, kurbelte das Seitenfenster herunter und betrachtete das große Schild mit der Aufschrift Staudenkulturen Geert Wolters. Autos standen auf einem Parkplatz neben einem breiten Grundstück voller niedriger Bocktische mit blühenden Pflanzen und Kräutern. Geranien und Petunien hingen wie bunte Girlanden vor den offenen Treibhäusern. Kunden spazierten zwischen den Tischen hindurch und ein junges Ehepaar verstaute blühende Begonien hinten in einem VW.
    Nel nickte zu einem blonden Mädchen hinüber, das eine flache Kiste mit Lavendelpflanzen zu einem der Tische trug und die Töpfe darauf ausstellte. »Ist das
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