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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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mein Gegenstück auf deiner Seite verursacht hat. Und nun fahr bitte fort und schließe deine Freundschaft.«
    »Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was Sie mit ihnen gemacht haben, dann bin ich raus aus der Nummer, verlassen Sie sich drauf.«
    Sonnenbraun-Martin musterte sie spöttisch. »Du hast deinen Zweck doch bereits so gut wie erfüllt. Wozu bist du hergekommen, wenn du jetzt nicht mit dir selbst Freundschaft schließt?«
    »Ich mag mich ja nicht mal besonders.«
    Anna sagte: »Dir ist aber schon
klar
, wer wir sind – du und ich, meine ich –, oder?«
    Mistletoe ignorierte das Mädchen und betrachtete das Büro. Die Regale waren aus Kirschholz statt aus Glas. Und anstelle der gerahmten Bilder beherbergten sie Vogelskulpturen aus Metalldraht.
    »Wo sind wir hier?«
    Jede Faser in Mistletoes Körper schrie
Raus hier
. Dieser plötzliche Massenandrang von Dingen, die sie nicht verstand, machte sie schwindlig. Aber sie hatte ihre letzte Log-in-Kapsel benutzt. Wenn sie jetzt ausflimmerte, würde sie Ambrose vielleicht für immer verlieren.
    »Wir sind eins«, sagte Anna. Mistletoe hätte ihr für ihr ungeduldiges Lächeln gern eine Ohrfeige verpasst. »Auf genetischer Ebene ist ein ebenso großer Teil von mir in dir wie von dir in mir. Wir sind Gegenstücke. Genetische Äquivalente. Hybride Zwillinge.« Ihr Lächeln hellte sich auf. »Wie immer du’s nennen willst.«
    »Arbeitest du für diesen Kerl?«, fragte Mistletoe und zeigte mit dem Daumen auf Sonnenbraun-Martin.
    »Schöpfer-Direktor Truax?«, sagte Anna verwirrt. »Natürlich.«
    »Dann bin ich nicht wie du.«
    »Unsere DNS sagt etwas anders.«
    Mistletoe fühlte sich fiebrig, bedeckt mit einer schleimigen Schweißschicht. Das hier musste ein Albtraum sein. Irgendwie hatte Ambrose sie mit seiner Geisteskrankheit angesteckt, und jetzt halluzinierte sie. Ohne wirklich darüber nachzudenken, hob sie die Hände an ihren Kopf und hielt ihre Handflächen einen Zentimeter neben ihre Schläfen.
    Flucht.
    »Anna, werd ihre Freundin, jetzt!«, brüllte Sonnenbraun-Martin und hechtete über den Schreibtisch. Die Büropflanze entrollte eine belaubte Ranke in Richtung ihres Knöchels. Anna blickte sich verwirrt und erschrocken um.
    Mistletoe dachte an den gelben Schal, der das Leben aus Tante Dita herauswürgte.
Das ist nicht real
, sagte sie sich.
Ambrose hat recht.
Außerdem wusste Sonnenbraun-Martin ja nicht einmal, wovon sie überhaupt sprach. Sie musste ausflimmern, oder sie würde auch noch den Rest ihres Verstands verlieren.
    Sonnenbraun-Martin baute sich vor ihr auf, mit einem Ausdruck wilder Verzweiflung auf seinem pausbäckigen, künstlich jungenhaften Gesicht. Er griff nach ihren Handgelenken, gerade als sie die Handflächen gegen die Schläfen drückte und damit den Log-out-Stromkreis schloss.
    Der Raum wich zurück, entfernte sich zu einem winzigen Punkt.
    Ihr Mund schmeckte widerlich kupfern, wie eine Prä-Unison-Münze.
    Sie öffnete die Augen. Es war dunkel im Innern von Magnus’ und Ivors Drahtstamm. Der Boden war deutlich bequemer, als sie in Erinnerung hatte. Kurz saß sie einfach nur da, dankbar dafür, wieder in der subsphärischen Realität zu sein, die sie verstand. Dann hustete sie einen dicken Schleimklumpen aus.
    Für den Fall, dass sie Deirdre O’Hanlon jemals wiedersähe, nahm sie sich vor, ihr zu sagen, dass sie mit Pjotr ganz einer Meinung war: Ohne Unison waren sie besser dran. Das größte soziale Netzwerk der Geschichte war nichts weiter als ein endloser Kreislauf aus Verwirrung und Frustration. Sie hatte versucht zu tun, was Martin von ihr verlangt hatte, um Dita zu retten, doch dann war Dita plötzlich fort, und Martin war so anders und hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon sie sprach. Was sollte das alles?
    Sie beschloss, sich Nelson zu schnappen und sich ins Gewühl der Straßen zu stürzen. Sie würde zu Tante Ditas ausgebombtem Haus zurückkehren und es nach Beweisen durchstöbern. Vielleicht konnte sie ja so herausfinden, ob Martin Dita tatsächlich entführt hatte oder sie einfach verschwunden war.
    Ambrose würde eben allein klarkommen müssen, bis sie einen anderen Weg gefunden hatte, um sich erneut einzuloggen. Möglicherweise kannte Sliv ja jemanden, der ihre Handflächen hartkodieren konnte.
    Als sie aufstand, erleuchtete ein angenehm weißer Lichtschein ihre Umgebung. Der Drahtstamm war verschwunden. Und das Tunnellabor der beiden Brüder hatte sich in das Wohnzimmer eines todschicken Oberstadt-Apartments
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