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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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verwandelt. Zorn loderte in ihr auf, jäh und heiß.
    »Ich bin immer noch in diesem verbloggten Unison!«, schrie sie.
    »Ich erkenne die Schlüsselwörter, jedoch nicht den Befehl«, antwortete der Raum mit einer beruhigenden, geschlechtsneutralen Stimme. »Bitte formulieren Sie neu oder autorisieren Sie einen Gedanken-Scan, um Ihre Absicht zu ermitteln.«
    »Fahr zur Hölle«, sagte Mistletoe.
    »Gehe offline«, sagte der Raum. »Auf Wiedersehen, Anna. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«
    Mistletoe ballte die Faust und hielt nach irgendetwas Ausschau, dem sie einen Schlag verpassen konnte. Über einem kreisrunden Tisch in der Mitte des Zimmers schwebte eine übergroße Projektion von Sonnenbraun-Martin, der seine Arme um die Schultern von Mistletoes Profi-Zwilling und einem Jungen gelegt hatte, der aussah wie eine größere, hübschere Version von Ambrose, mit hohen, fast femininen Wangenknochen.
    »Moment!«, kommandierte Mistletoe. »Wo bin ich?«
    »In der für Sie vorgesehenen UniCorp-Wohnung«, sagte der Raum. »Apartment 1763X im neunundachtzigsten Stockwerk eines Vier-Sterne-Luxusatmoscrapers, erworben von Schöpfer-Direktor Truax und umgewandelt in Wohnraum für das obere Management.«
    »Ich bin also gar nicht in Unison?«
    »Sie sind vor exakt zwei Minuten und einundvierzig Sekunden aus Unison zurückgekehrt.«
    Eine der Wohnzimmerwände bestand aus einer gigantischen Glasscheibe, die vom Boden bis zur Decke reichte und von einer rauchgrauen Tönung verdunkelt wurde. Mistletoe presste die Handflächen auf das Glas, woraufhin die Tönung sich auflöste und einen schwindelerregenden Panoramablick über Eastern Seaboard City freigab. Vom Apartment aus konnte man auf ein paar benachbarte Gebäude – eines von ihnen hatte ein Dach aus gelbem Sand, gesprenkelt mit roten und weißen Zelten – und weiter unten auf das Gitternetz der leeren Straßen hinabsehen. In der Ferne unterbrach das quadratische Grün des ESCU -Campus die gleichförmigen Reihen von Atmoscrapern. Jenseits des Campus ragte der runde Gipfel der Flimmerhalle Neun in die Höhe und glitzerte in der Nachmittagssonne. Noch nie hatte sie die Stadt aus solch großer Höhe gesehen, und sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was nicht stimmte: Die Straßen waren beinahe vollkommen leer. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, durch den Sphärenschild zu dem über ihr fließenden Verkehr hinaufzustarren, und einer Sache war sie sich dabei stets sicher gewesen: Er stand niemals still. Aber jetzt – oder hier – waren nur ein paar vereinzelte Autos zu sehen, winzige helle Punkte in den Straßen unter ihr. Wo waren die sich überlagernden Muster der erhöhten Verkehrsströme? Eigentlich hätte sie von hier oben eine Ahnung von den Bewegungen und der Geometrie bekommen müssen, von der Art, wie die Verkehrsadern einander speisten und sich in ein ganzes Adernetz verzweigten. Doch ESC war eine Geisterstadt. Es war unmöglich.
    Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. »Ich brauche einen Spiegel.«
    Der Raum folgte ihrem Wunsch, der Durchgang zur Küche verwandelte sich in undurchsichtiges, dann spiegelndes Glas. Mistletoe sah genau so aus wie die eifrige, geschniegelte Anna, ihr Oberstadt-Zwilling. Ihr Zopf war verschwunden. Sie steckte in diesem fürchterlichen Geschäftsfrauen-Outfit.
    »Wer bin ich?«
    »Anna 53. UniCorp-Mitarbeiterin. Abteilung: geheim.«
    Sie war in den Körper ihres leibhaftigen Zwillings geflimmert. Es stimmte: Sie teilten gemeinsame DNS . Sie kniff sich in den Unterarm, betastete den Bauch unter ihrer Bluse. Er fühlte sich an wie ihr eigener.
    »Wo sind denn die ganzen Autos hin?«
    »Ohne Sondererlaubnis ist leibhaftiger Pendlerverkehr in Eastern Seaboard City illegal. Achtundneunzig Prozent aller menschlichen Verbindungsherstellung werden über Unison abgewickelt.«
    »Nein. Es gibt Millionen von Autos. Ich hab sie gesehen. Ich bin in ’nem Taxi gefahren.«
    »Ohne Sondererlaubnis ist leibhaftiger Pendlerverkehr in Eastern Seaboard City illegal.«
    »Klar. Danke.« Sie trat vom Spiegel zurück, wandte sich ab.
    »Sie scheinen desorientiert zu sein. Möchten Sie, dass ich ein wenig Musik spiele, die in der Lage ist, Ihre Gehirntätigkeit anzuregen?«
    Sie antwortete nicht. Vom Fenster aus ließ sie ihren Blick über die Stadt schweifen. Sie dachte an all die Dinge, die sich verändert hatten, seit sie durch die Tür gegangen war: die Ausstattung des Büros, Martins Aussehen, der Verkehr in ESC . Es war, als hätte
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