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Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
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plötzlich eine junge Frau
     auf spitzen Stöckelschuhen schwankend auf dem Bürgersteig entgegenkam. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich starrte sie
     an. Es war Lena. Im selben Moment hatte auch sie mich erkannt.
    »Hallo, Lena«, sagte ich auf Ukrainisch und streckte ihr die Hand hin. »Was machst du denn hier?«
    »Was denkst du wohl?«, sagte sie.
    »Ich habe von dem Unfall gehört. Mit dem Minibus. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. War jemand von unserer Farm dabei?«
    »Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte sie.
    Aus der Nähe sah sie noch jünger aus. Ihre Haare waren jetzt ein bisschen länger, und sie hatte weißen Puder aufgelegt, der
     maskenhaft wirkte, und trug einen sehr roten Lippenstift, der ihren Schmollmund noch betonte. Er war an den Rändern verschmiert,
     als hätte sie herumgeknutscht. Die schwarzen Strumpfhosen und die hochhackigen Schuhe wirkten an ihren dünnen Beinen grotesk.
     Sie sah aus wie ein Kind, das sich mit den Sachen seiner Mutter verkleidet hatte und mit ihrer Schminke spielte. Bis auf die
     Augen. Da war nichts Kindliches in ihren Augen.
    |365| »Wie geht es den anderen? Tasja? Oksana?«
    »Keine Ahnung.«
    Sie war vor mir stehen geblieben, und jetzt starrte sie geradeaus, an mir vorbei. Ich drehte mich um und folgte ihrem Blick.
     Vor dem Eingangsbereich eines Bürogebäudes parkten mehrere Autos. Ganz hinten, halb verborgen hinter einem weißen Transporter,
     stand ein dicker schwarzer Geländewagen. Ich musste direkt daran vorbeigegangen sein.
    Mir wurde übel. Mein Herz begann zu rasen. Bumm. Bumm. Lauf, lauf, rief mein hämmerndes Herz, doch meine Füße waren wie angewurzelt.
     Ich sah Lena an. Ihre Augen waren vollkommen tot.
     
    Oben am Platz, nicht weit von dem Café, findet er eine Telefonzelle. Er fischt in seiner Hosentasche nach Wechselgeld, steckt
     ein paar Münzen in den Schlitz und wählt die Nummer, die auf seinem Zettel steht. Es klickt ein paarmal, dann ist ein durchgehender
     Ton zu hören. Was hat das zu bedeuten? Er wählt noch mal. Der gleiche nichtssagende Ton. Er wartet lange, aber nichts passiert.
     Gar nichts. Halb hatte er damit gerechnet. Er seufzt. Das war’s dann. Ende seiner Reise. Vagvaga Riskegipd. Nichts. Na ja.
    An einem kleinen runden Tisch vor dem Café sitzt eine Dame mittleren Alters. Er geht zu ihr und zeigt ihr den Zettel.
    »Oh«, sagt sie, »das ist eine alte Nummer. Heute ist die Vorwahl 0114 statt 0742.   Aber Sie brauchen gar keine Vorwahl, denn Sie sind ja in Sheffield. Wählen Sie einfach eine 2 vor der eigentlichen Nummer.«
    Er zieht einen Bleistiftstummel aus der Hosentasche, und sie schreibt es ihm auf.
    Dann versucht er es mit der neuen Nummer. Diesmal hört er einen Klingelton. Nach mehrmaligem Läuten ist eine Frau am Apparat.
    |366| »Halloo?« Sie spricht im gleichen breiten Dialekt wie Rock.
    »Vagvaga?« Er kann vor Aufregung kaum seine Stimme beherrschen. »Vagvaga Riskegipd? Vagvaga?«
    Einen Moment herrscht Stille. Dann sagt die Stimme am anderen Ende: »Zieh Leine.« Ein Klicken ist zu hören, und der Amtston.
     Andrij spürt einen Stich im Herzen. So nah, und doch so fern. War das ihre Stimme am anderen Ende der Leitung? Er weiß nicht
     mehr, ob sie damals überhaupt etwas zu ihm gesagt hat. Wie alt wäre sie heute? Die Stimme am Telefon klang brüchig und atemlos,
     wie die einer älteren Frau. Er beschließt, ein paar Minuten zu warten und es dann noch einmal zu versuchen.
    Als er aus der Telefonzelle kommt, sitzt die Dame immer noch an ihrem Tisch und trinkt Kaffee. Inzwischen ist eine Freundin
     bei ihr, und zu ihren Füßen stehen mehrere Einkaufstüten. Kurz entschlossen geht er mit seinem Zettel noch mal zu ihr.
    »Kein Glück?« Sie lächelt ihn an.
    »Was ist Name?«, fragt er sie.
    Jetzt sieht sie ihn seltsam an. »Barbara Pickering. Was haben Sie denn gedacht?«
    Er betrachtet den Zettel. Aha. Mit fünfundzwanzig sieht er, was seine siebenjährigen Augen nicht erkennen konnten: lateinische
     Buchstaben.
    »Was heißt zieh Leine?«
    Wieder sieht sie ihn irritiert an. »Das reicht jetzt. Zieh Leine, ja?« Dann dreht sie ihm den Rücken zu und setzt die Unterhaltung
     mit ihrer Freundin fort.
    Er hat sie auch um Wechselgeld bitten wollen, aber das geht jetzt wohl nicht mehr. Also kehrt er zur Telefonzelle zurück und
     steckt eine Pfundmünze in den Schlitz.
    »Halloo?«, meldet sich die gleiche Frau.
    |367| »Barbara?« Barr – baah – rrah. Barbarisch. Wild. Ungezähmt. Wahnsinnig sexy,
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