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Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
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Glück«, sagt Andrij.
    Bis sie endlich aufbrechen, ist es früh am Nachmittag. Irina sitzt wieder in der Mitte, mit unergründlichem Profil und schläfrigem
     Blick, während der Bus auf schmalen Sträßchen durch graue Steindörfer rumpelt. Andrij legt den Arm um sie, und sie rutscht
     näher heran und schmiegt sich an ihn. Ihr Haar ist offen und ungekämmt. Er streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sieht,
     wie sie lächelt. Dieses Mädchen – sie ist nicht ohne. Ja, Andrij Palenko, du bist ein echter Glückspilz von einem Donbasser
     Bergmann.
    »Und was habt ihr in Sheffield vor?«, fragt Rock.
    Die Sonne steht hoch am Himmel, und nach dem Regen steigt von den Hügeln leichter Dunst auf.
    »Sheffield? Partnerstadt von Donezk. Meine Heimat. Ist sehr schön da, oder?«
    »Sheffield? Aye, könnte man sagen. Wenn man eine Vorliebe für Stahlwerke hat. Man könnte auch sagen, dass es ziemlich hässlich
     ist.«
    »Gibt es immer noch Kohlebergbau?«
    »Nein, das hat sich alles geändert. Früher war hier alles voll mit Schlacken. Jetzt ist alles voll mit Schlampen.« Rock schiebt
     seine Brille hoch. »Barnsley hat auch eine Partnerstadt in der Ukraine. Grolowka.«
    »Kenne ich. Auch im Donbass. Nicht schön.«
    »Na ja, Barnsley ist auch nicht grade für seine Schönheit bekannt.«
    |360| »Ich war mal in Sheffield. Und ich habe Vlunki kennengelernt, der berühmt ist für Weisheit und gutes Herz. Wenn wir in Sheffield
     sind, bitten wir ihn um Hilfe.«
    »Vlunki?«
    »Parteiführer. Er ist blind, aber er sieht alles.«
    »Ach! Du meinst Blunkett!« Rock hüpft auf dem Sitz, wobei ihm die Brille von der Nase rutscht und über das Armaturenbrett
     fliegt. Als er sich vorbeugt, um sie aufzufangen, macht das Lenkrad einen Ruck und der Bus schleudert und gerät auf den Randstreifen.
    »Dieser verdammte Blunkett!« Rock biegt an seiner Brille herum, damit sie fester sitzt.
    »Warum ist er verdammt?«
    »Klassenverräter. Hat wegen so einer Sauerei mit einer Schickeriatussi unser Geburtsrecht verkauft, in Jimmys unsterblichen
     Worten.«
    Was verkauft? Wer ist dieser Jimmy? Doch bevor Andrij fragen kann, ruft Rock: »Da ist es!«
    Seit ein paar Kilometern geht es stetig bergauf, spitze Haarnadelkurven führen durch eine zerklüftete Farn-, Torf- und Felslandschaft,
     die düsterer ist als das sandige, heidebewachsene Plateau der Neun Ladys. Oben auf der Kuppe wird die Straße wieder gerade,
     und als es auf der anderen Seite den Berg hinuntergeht, sehen sie unter sich im Tal die Stadt, im Zentrum dicht bebaut mit
     in der Sonne blitzenden Gebäuden, während zum Rand hin hässliche Neubausiedlungen wuchern.
    »Das ist Sheffield?« Irinas Stimme ist kühl.
    Andrijs Herz zieht sich zusammen. Diese Stadt liegt eindeutig nicht auf einem Hügel.
    Und es gibt auch keine Bougainvilleen. Die grünen Vororte weichen bald langen Reihen von Backsteinhäusern. Als sie in die
     Nähe des Zentrums kommen, parkt Rock in einer |361| Seitenstraße, in der viele Häuser leer zu stehen scheinen. Die Vorhänge sind zugezogen, die Vorgärten voller Müll und Unkraut,
     und überall hängen Zu-vermieten-Schilder. Wie hat Vlunki zulassen können, dass seine Stadt so herunterkommt? In der Luft liegt
     ein leichter Geruch nach Stahlindustrie, der ihn an zu Hause erinnert.
    »In der Innenstadt kann man nirgends parken. Deshalb gehen wir von hier zu Fuß. Ich treffe mich mit Thunder im Ha Ha.«
    Sie folgen Rock durch eine nach Urin stinkende Unterführung in Richtung Stadtzentrum. Der Sturm hat die Wolken verjagt, und
     es ist wieder ein heißer und klarer Tag. Auf der anderen Seite sieht es schon ordentlicher aus, und der Verkehr wird umgeleitet,
     um das Viertel hübscher zu machen. Auf den Bürgersteigen herrscht reger Betrieb, es gibt Läden und Marktstände und sogar ein
     paar elegante neue Gebäude. Es ist ganz anders als in seiner Erinnerung, aber wenigstens ist es besser als der erste Eindruck.
     Andrijs Laune hebt sich. Brunnen – ja, es gibt tatsächlich Brunnen! Und einen großen Platz mit Blumenbeeten und Wasserfällen,
     der von einem großen gotischen Gebäude überragt wird. Und da ist eine moderne Zitadelle aus Glas und Stahl, die von Rechts
     wegen ein Palast sein müsste, sich aber leider nur als Hotel entpuppt. Andrij nimmt Irinas Hand und flicht die Finger in ihre.
     Sie lächelt und zeigt auf einen Brunnen. »Schau doch!«
    Im Brunnen springt eine Schar Kinder herum, die nur Unterhosen anhaben und sich gegenseitig mit
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