Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
dieser Name.
    »Sie ist nicht da.« Die Stimme zögert. »Waren Sie das eben?«
    »Ich bin Andrij Palenko. Ich komme aus der Ukraine. Donezk. Partnerstadt von Sheffield.«
    »Ach«, sagt die Frau. »Und ich dachte, Sie wären so ein Verrückter. Barbara wohnt schon seit Jahren nicht mehr hier. Sie lebt
     jetzt oben in Gleadless. Ich bin ihre Mutter.«
    »Ich habe sie kennengelernt vor vielen Jahren. Ich war mit meinem Vater in Sheffield, Bergbau-Delegation.«
    »War das die große Sause damals in der Stadthalle, mit den ganzen Ukrainern? Ich war auch da. Liebe Güte, das war eine Nacht!«
     Ein gackerndes Lachen schrillt durch die Leitung. »All der vom Stadtrat gestiftete Wodka.«
    »Ist sie immer noch lebt in Sheffield?«, fragt Andrij. Dann platzt er mit der Frage heraus, die er sich stellt, seit er den
     Fuß auf englischen Boden gesetzt hat – seit er wusste, dass es diese Frage gibt. »Ist sie heiraten?«
    »Oh, ja. Hat zwei liebe Buben, Jason und Jimmy. Sechs und vier. Soll ich Ihnen ihre Telefonnummer geben?«
    »Ja. Ja, natürlich.«
    Er holt seinen Bleistiftstummel heraus. Sie diktiert die Nummer langsam, wartet einen Moment nach jeder Ziffer. Andrij hört
     zu, doch er schreibt nicht mit.
     
    Ich drehte mich um und wollte losrennen, doch Lena verstellte mir den Weg. Sie hatte ein hässliches, verschmiertes Lächeln
     im Gesicht.
    »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Er hat eine Pistole.«
    Wie konnte das bloß passieren, mitten am Tag, mitten auf einer ganz normalen Straße, mitten in England? Vor meinen Augen ging
     die Tür des Geländewagens auf, und dort stand |368| Vulk und grinste mich mit seinen gelben Zähnen an, die Arme zur Begrüßung ausgebreitet. Von einer Pistole war nichts zu sehen.
     Falls er wirklich eine hatte, steckte sie in seiner Tasche. Sollte ich es drauf ankommen lassen und losrennen? Gegen die strahlende,
     schräg einfallende Sonne sah seine schwarze Silhouette aus wie eine Erscheinung – ein grinsender, fetter Alptraum. Ich war
     vor Panik wie versteinert. Jetzt kam er auf mich zu, die Straße herauf, ganz langsam. Sein Schatten glitt vor ihm über die
     Straße, scharf konturiert und plump. Hinter mir hörte ich, wie Lena etwas vor sich hin murmelte. Würde sie mich festhalten,
     wenn ich losrannte?
    Er kam näher. »Mein kleinerr Blume.« Er hatte die Jacke ausgezogen, und ich sah die dunklen Schweißflecke unter seinen Armen.
     Ich dachte, ich hörte ihn keuchen, dann merkte ich, dass er flüsterte: »Komm, komm, komm.«
    Ich wich zurück, stieß gegen Lena, und in diesem Moment holte er die Pistole heraus. Ich erstarrte. Die Waffe war grau und
     ziemlich klein. Sie wirkte ganz harmlos. Er zielte nicht einmal. Er hielt sie einfach in der Hand und spielte damit, ließ
     sie am Finger baumeln, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    Dann entdeckte ich etwas am Ende der Straße, hinter Vulk   – Menschen, Bewegung. Plötzlich war Hund da, sprang auf uns zu, alle vier Pfoten auf einmal in der Luft, und ein paar Meter
     dahinter, mit rotem Gesicht und außer Atem, kam Andrij.
     
    Hund bellt wie verrückt. Andrij schreit ihn an, er soll ruhig sein, aber Hund springt an ihm hoch, kratzt mit seinen Pfoten,
     jault und wirft wie wild den Kopf herum. Andrij nimmt die Taschen und folgt ihm auf die Straße.
    Es ist halb fünf. Die Bürgersteige sind voller Leute, die |369| rasch noch einkaufen gehen, bevor die Läden schließen. Hund rennt durch die Menge voraus, schlüpft den Leuten zwischen den
     Beinen durch, wartet, bis Andrij aufgeholt hat. Die ganze Zeit bellt er laut, drängend. Andrijs Herz klopft schnell, denn
     allmählich wird ihm klar, dass Hund ihn unbedingt irgendwohin bringen will, und Irina ist schon über eine Stunde fort. Hund
     rennt über eine dicht befahrene Straße und läuft in eine Gasse zwischen hohen Backsteinmauern. Plötzlich sind die Leute verschwunden,
     sie bewegen sich durch ein ruhiges Büroviertel in südwestliche Richtung.
    Als sie wieder rechts abbiegen, befinden sie sich am Ende einer langen Straße mit gesichtslosen Büroblocks und Geschäftsgebäuden.
     Die eine Straßenseite – ihre – ist in hellen Sonnenschein getaucht; die andere liegt bereits im Schatten. Etwa hundert Meter
     weiter sieht er drei Gestalten. Während er hinläuft, nimmt die Szene in Andrijs Kopf Gestalt an. Ihm am nächsten steht Vulk,
     mit dem Rücken zu Andrij. Er geht langsam, o-beinig watschelnd die Straße hinauf, wie es Leute tun, die vorn zu viel Gewicht
     hängen haben.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher