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Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
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Kopf.
    Wir hatten uns von den großen Straßen ferngehalten und stattdessen die kleinen Gassen genommen, wo kaum noch Leute unterwegs
     waren. Es war immer noch heiß – die Hitze kroch aus den Backsteinwänden und die stehende Luft war staubig und schwer. Wir
     gingen immer weiter, ich weiß nicht wie lange, bis das Zittern aufhörte und uns die Füße wehtaten und wir hungrig wurden.
     Schließlich fanden wir den Platz mit dem Café wieder. Rock war natürlich längst weg. Wir kamen über zwei Stunden zu spät.
    Die Feierabendeinkäufer waren fort, und der Platz hatte sich mit jungen Leuten gefüllt, die aßen, tranken, rauchten und redeten.
     Das Klappern von Besteck und schrilles Gelächter hallten so laut über den Platz, dass es mir in den Ohren klingelte und mir
     schwindlig wurde. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Wir kauften uns etwas zu essen, ich weiß nicht mehr was, nur
     dass es das Billigste auf der Karte war. Wir sahen so abgerissen aus und fehl am Platz, ich immer noch in den erdbeerfleckigen
     Jeans und Andrij in seinen ukrainischen Hosen. Das Mädchen, das uns bediente, war Weißrussin.
    »Sucht ihr einen Job?«, fragte sie. »Hier brauchen sie immer jemand. In dieser Ecke kommen alle aus Osteuropa.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Andrij.
    »Wir sind uns noch nicht sicher«, sagte ich.
    Dann brachte sie jedem von uns eine Portion Eis und sagte, es gehe aufs Haus.
    »Gibt es hier irgendwo ein Telefon?«, fragte ich Andrij. »Ich will meine Mutter anrufen.«
    Kaum hatte sie »Hallo? Irinotschka?« gesagt, kamen mir die Tränen, doch ich tat, als müsste ich niesen, denn ich |373| wollte nicht, dass sie fragte, warum ich weinte. Es hätte sie bloß unnötig aufgeregt. Ich wollte nur ihre Stimme hören, wie
     damals, wenn ich als Kind einen Alptraum hatte und sie sagte, alles sei gut. Manchmal braucht man nur eine tröstende Geschichte.
     Jetzt sagte ich ihr schniefend, dass alles in Ordnung sei, dass ich eine Erkältung hätte und der Hund einen Unfall hatte,
     und sie wollte wissen, warum ich mich nicht warm genug anzog, und welcher Hund, und was für ein Unfall, und warum ich von
     der netten Familie weggegangen sei, und so musste ich noch ein paar Lügen erfinden, damit sie sich keine Sorgen machte. Warum
     fragte sie auch so viel?
    »Irinotschka, ich möchte dich etwas fragen.«
    Ich dachte, jetzt würde sie wissen wollen, mit wem ich reiste oder wann ich heimkam, und bereitete mich schon darauf vor,
     noch mehr Geschichten zu erfinden, aber stattdessen fragte sie: »Wärst du sehr böse, wenn ich einen neuen Freund hätte?«
    »Nein, natürlich nicht, Mama. Du sollst das tun, was dich glücklich macht.«
    Mama! Mein Herz zappelte in meiner Brust wie ein dicker nasser Fisch.
    Natürlich war ich böse. Ich war böse und stinksauer. Wenn man seinen Eltern nur einmal den Rücken zudreht, tanzen sie auf
     dem Tisch!
    »Das ist ja wunderbar, Mama. Wer ist es denn?«
    »Erinnerst du dich, wie ich dir von dem netten älteren Ehepaar erzählt habe, das unten eingezogen ist? Und sie haben einen
     Sohn   …«
    »Aber ich dachte   …«
    »Ja, wir haben uns verliebt.«
    Erst mein Vater, und jetzt meine Mutter!
    Als ich auflegte, zitterten meine Hände. Der Fisch in meiner |374| Brust zappelte wie verrückt. Wie konnten meine Eltern mir so was antun, ihrer kleinen Irinotschka? Draußen über dem Platz
     dämmerte es, aber es war noch warm. Andrij stand da und wartete auf mich, die Ellbogen auf die Balustrade des Brunnens gestützt,
     und seine Silhouette war schlank und muskulös, trotz der hässlichen Hose, und eine Locke hing in seine Stirn wie ein braunes
     Fragezeichen. Er lächelte. Ihn einfach nur anzusehen, brachte meinen Körper zum Singen.
    Würden Andrij und ich einander für immer lieben? Liebe, schien es, war eine ungreifbare, unvorhersehbare Sache – kein Fels,
     auf dem man sein Leben erbauen konnte. Ich hatte gewollt, dass alles vollkommen war, wie bei Natascha und Pierre, aber vielleicht
     war das nur eine Geschichte. Wie kann die Liebe vollkommen sein, wenn die Menschen es nicht sind? Mein Vater und meine Mutter
     zum Beispiel – ihre Liebe hat nicht für immer gehalten, aber eine Zeitlang war es gut, gut genug für Irinotschka, das kleine
     Mädchen, das ich früher war. Natürlich will man, dass die Eltern vollkommen sind, wenn man klein ist – aber warum sollten
     sie das sein?
    »Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Andrij.
    »Es geht ihr ganz gut.«
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