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Calibans Krieg

Calibans Krieg

Titel: Calibans Krieg
Autoren: James S. A. Corey
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an der hellblauen Himmelsdecke befestigt war und wo man über die Mauern klettern und wer weiß wo herauskommen konnte.
    Mei lehnte den Kopf an Doktor Stricklands Schulter, spähte über seinen Rücken und nannte die Namen aller Pflanzen, an denen sie vorbeikamen. Sanseviera trifasciata, Epipremnum aureum. Daddy musste immer grinsen, wenn sie die Namen richtig aufsagte. Als sie es für sich allein tat, wurde sie sofort ruhiger.
    »Gibt es noch mehr?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, aber Mei mochte ihre Stimme nicht.
    »Nein«, antwortete Doktor Strickland. »Mei hier ist die Letzte.«
    »Chysalidocarpus lutescens«, sagte Mei.
    »Gut«, antwortete die Frau, und dann, gleich noch einmal und etwas leiser: »Schon gut.«
    Je weiter sie sich der Oberfläche näherten, desto enger wurden die Korridore. Die älteren Gänge wirkten immer schmutzig, obwohl man dort eigentlich überhaupt keinen Schmutz entdecken konnte. Sie waren wohl einfach abgenutzt. Meis Großeltern hatten nach ihrer Ankunft auf Ganymed in den Wohnvierteln und Laboratorien in der Nähe der Oberfläche gelebt und gearbeitet. Damals hatten die Leute noch nicht sehr tief gegraben. Die Luft hier oben roch komisch, und die Luftaufbereiter summten und brummten und mussten ständig laufen.
    Die Erwachsenen redeten nicht viel, aber ab und zu erinnerte Doktor Strickland sich an Mei und stellte ihr Fragen: Was war ihre Lieblingsfigur in den Zeichentrickfilmen, die sie in den Feeds der Station sehen konnte? Wer war in der Schule ihre beste Freundin? Was hatte sie zu Mittag gegessen? Mei rechnete damit, dass er auch die nächsten Fragen stellen würde, die eigentlich immer kamen. Die Antworten hatte sie schon parat.
    Spürst du ein Kratzen im Hals? Nein.
    Bist du verschwitzt aufgewacht? Nein.
    War in dieser Woche Blut in deinem Aa? Nein.
    Hast du zweimal am Tag deine Medizin genommen? Ja.
    Dieses Mal verzichtete Doktor Strickland jedoch darauf. Die Flure, durch die sie gingen, wurden immer älter und schmaler, bis die Frau hinter ihnen laufen musste, damit die Männer, die ihnen entgegenkamen, genug Platz hatten. Die Frau hatte Meis Bild mitgenommen. Sie hatte es zu einer Röhre zusammengerollt, damit das Papier keine Falten bekam.
    Vor einer Tür, die kein Schild trug, blieb Doktor Strickland stehen und schob Mei auf die andere Hüfte hinüber, um das Handterminal aus der Hosentasche zu ziehen. Er tippte etwas in ein Programm ein, das Mei noch nie gesehen hatte, und dann öffnete sich die Tür. Die Dichtungen knackten laut, wie man es manchmal in alten Filmen sah. Der Flur, den sie betraten, war voller Abfall und alter Metallkisten.
    »Das hier ist nicht das Krankenhaus«, stellte Mei fest.
    »Dies hier ist ein ganz besonderes Krankenhaus«, erklärte Doktor Strickland. »Ich glaube nicht, dass du schon einmal hier warst, oder?«
    Für Mei sah es überhaupt nicht nach einem Krankenhaus aus, sondern eher wie eine der verlassenen Röhren, über die Daddy manchmal sprach. Überflüssige Räume aus der Zeit, als Ganymed gebaut worden war, die höchstens noch als Lagerräume benutzt wurden. Dieser hier besaß allerdings am anderen Ende eine Luftschleuse, und als sie hindurchtraten, sah es tatsächlich beinahe nach einem Krankenhaus aus. Jedenfalls war es dort sauberer, und es roch nach Ozon wie in den Dekontaminationszellen.
    »Mei! Hallo, Mei!«
    Es war einer der großen Jungs. Sandro. Er war schon fast fünf. Mei winkte ihm zu, als Doktor Strickland mit ihr vorbeiging. Mei fühlte sich besser, weil die großen Jungs anscheinend auch hier waren. Wenn sie hier waren, dann war vermutlich alles in Ordnung, auch wenn die Frau, die Doktor Strickland begleitete, nicht ihre Mommy war. Da fiel ihr ein, dass …
    »Wo ist meine Mommy?«
    »Wir werden deine Mommy gleich treffen«, versprach Doktor Strickland ihr. »Aber vorher müssen wir noch ein paar Kleinigkeiten erledigen.«
    »Nein«, sagte Mei. »Ich will nicht.«
    Er trug sie in einen Raum, der aussah wie ein Untersuchungszimmer, nur dass an den Wänden keine Comiclöwen hingen, und die Tische waren auch nicht wie grinsende Nilpferde geformt. Doktor Strickland setzte sie auf einen stählernen Behandlungstisch und strich ihr über den Kopf. Mei verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn finster an.
    »Ich will zu meiner Mommy.« Mei grunzte genauso ungeduldig, wie es ihr Daddy getan hätte.
    »Du wartest einfach hier, und ich sehe, was ich für dich tun kann«, antwortete Doktor Strickland lächelnd.
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