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Burgfrieden

Burgfrieden

Titel: Burgfrieden
Autoren: Sigrid Neureiter
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in einem solchen Fall üblich, angeordnet worden. Der Comissario hatte allerdings durchblicken lassen, dass man von einem Selbstmord in offensichtlicher geistiger Verwirrung ausgehe.
     
    Was freilich die unkorrekte Vorgehensweise von Blasius Botsch – angefangen von der Nichteinhaltung des Amtsweges bis hin zu den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen – betraf, würde man der Sache noch genau auf den Grund gehen. Das hatte der zuständige Stadtrat bereits mit lautem Getöse in den Medien, vor allem in der Südtiroler Tageszeitung ›Dolomiten‹, verkündet.
     
    Wie Jenny allerdings von Francesca Rossi wusste, machte sich der Burgdirektor, nachdem er endlich Zeit gefunden hatte, in Ruhe über die Sache nachzudenken, keine allzu großen Sorgen mehr um seine Zukunft. Falls man ihm tatsächlich einen Verstoß gegen die Regeln anlasten konnte – und das war laut Francesca keineswegs gewiss, gab es doch ihres Wissens nach für einen solch außergewöhnlichen Fall gar keine Vorschriften, die man hätte anwenden können – falls also Blasius seinen Hut würde nehmen müssen, wäre das keine Katastrophe. Als letzter und einziger Spross einer wohlhabenden Südtiroler Adelsfamilie verfügte er über das nötige Vermögen, das es ihm erlauben würde, von seinem Ansitz bei Bozen aus künftig als Privatgelehrter tätig zu sein. Zudem würde ein Abschied von der Burg es endlich ermöglichen, dass er und Francesca ihre Verbindung legalisierten und öffentlich kundtaten.
     
    Jenny hatte aufmerksam den Erzählungen der lebensklugen Frau zugehört. Es beruhigte sie, dass die Konsequenzen für Francesca, der sie neben Arthur ihre Rettung verdankte, und ihren geliebten Blasius in jedem Fall weniger dramatisch ausfallen würden als befürchtet. Jenny hatte auch mit Arthur gesprochen, der sich ihrer Meinung nach viel zu große Vorwürfe machte. Immerhin war es ja ihre eigene Initiative gewesen, die Person auf dem Fahrrad zu verfolgen. Dass Jenny gedacht hatte, es handle sich dabei um Lenz, verschwieg sie tunlichst.
    Der Professor hatte schließlich eingesehen, dass es nichts brachte, sich selbst zu quälen. Dennoch hatten ihn die Ereignisse von allen sichtlich am meisten gezeichnet. Kannte er doch Xenia schon so viele Jahre, hatte sie als Studentin und später als aufstrebende junge Wissenschaftlerin gefördert. Obwohl ihm ihre Verbissenheit, mit der sie ihre akademische Karriere verfolgte, gerade in letzter Zeit zu denken gegeben hatte, wäre er doch nie auf die Idee gekommen, welch krankhafter Ehrgeiz sie antrieb.
     
    Gestern Abend hatte Jenny dann endlich die Ruhe gefunden, sich mit ihrem Diktiergerät zu beschäftigen. Ein Satz, den Xenia ihr auf dem Wehrgang zugezischt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf:
    »Du hast ja nicht bemerkt, dass Botsch und die Rossi nicht die Lieder Walthers gesungen haben, die wir alle kennen …«
    Da musste sie Xenia allerdings recht geben: Ihr war kein Unterschied aufgefallen. Was auch nicht verwunderlich war, hatten Blasius und Francesca die Lieder doch auf Mittelhochdeutsch vorgetragen. Auch wenn Jenny sich während ihres Studiums ausführlich damit beschäftigt hatte, so war sie doch heute keineswegs mehr so textsicher, dass sie bei einem einmaligen Vortrag etwas bemerkt hätte. Zumal sie es an dem Abend ohnehin vorgezogen hatte, träumerisch zu den Klängen der Musik in ihren eigenen Gedanken zu schwelgen.
    Gedanken an Lenz, wie sie sich eingestehen musste. Und den hatte sie auch angerufen, kaum dass sie die entsprechenden Passagen am Tonband abgehört hatte. Nachdem ihr Xenias Bemerkung keine Ruhe gelassen hatte, war ihr wieder eingefallen, dass sie an dem Abend – mehr aus einer Laune heraus denn in einer bestimmten Absicht – das Diktiergerät hatte mitlaufen lassen. Mit etwas Glück waren die Aufnahmen gelungen, und sie konnte die Texte vielleicht anhand des Vortrags rekonstruieren.
    Kaum hatte sie ein wenig – diesmal mit äußerster Konzentration – hineingehört, war ihr sofort klar geworden: Die Lieder, die da gesungen wurden, waren zwar denen, die sie kannte, ähnlich, doch anstatt eines jungen Mannes oder eines Mädchens sprach ein verbitterter alternder Dichter aus den Zeilen.
     
    Sie hatte Lenz, nachdem er – wie sie erst später erfahren hatte – so heldenhaft über die Absperrung gesprungen und sie aufgefangen hatte, in den letzten beiden Tagen kaum zu Gesicht bekommen. Er hatte sich in der Villa rar gemacht mit der Begründung, dass er, nachdem sein Auftauchen bei
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