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Burgfrieden

Burgfrieden

Titel: Burgfrieden
Autoren: Sigrid Neureiter
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war überwältigt. Sie hatte zwar schon Fotos von der Burg gesehen, doch das war kein Vergleich mit dem Anblick, der sich ihr jetzt bot. Staunend blieb sie stehen und betrachtete das imposante Mauerwerk, das sich hoch auf einem bewaldeten Felsen erhob, der zur Talfer hin steil bergab fiel. Dort auf der Burg würden sie nicht nur den heutigen Abend, sondern auch die nächsten Tage verbringen. Es galt, die gefundene Schrift Wort für Wort zu analysieren und mit überlieferten Texten Walthers von der Vogelweide zu vergleichen. Nur diese aufwendige Methode würde es ihnen ermöglichen, die Echtheit des Manuskriptes einigermaßen gesichert zu bestätigen.
    Wobei Jenny bezweifelte, dass sie hierzu einen wesentlichen Beitrag würde leisten können. Über 20 Jahre war es jetzt her, dass sie die Uni verlassen und sich ins Berufsleben fern der hohen Wissenschaft gestürzt hatte. Bei den Untersuchungen selbst würde sie wohl kaum von Nutzen sein. Doch Arthur hatte befunden, dass sie, um die geplante Pressekonferenz möglichst fundiert vorbereiten zu können, auch in die Forschungsarbeit eingebunden sein sollte.
    Jenny seufzte. Sie hoffte bloß, dass sie ihn nicht enttäuschen und sich selbst nicht blamieren würde. Zu letzterem war sie ohnehin schon auf dem besten Wege. Denn jetzt bemerkte sie, dass die anderen ihr weit voraus waren. In einiger Entfernung sah sie die Gruppe die Talferbrücke überqueren. Dort, auf der anderen Seite des Flusses, begann der Aufstieg zur Burg. Sie würde rennen müssen, um die anderen noch einzuholen. Dazu musste sie aber erst einmal ihre Schuhe entleeren. So leicht, wie die Steinchen dort hineinfanden, so schwer war es, sie wieder herauszubekommen.
    Als sie sich hinkniete, um die Schließe der ersten Sandale zu öffnen, fiel plötzlich ein Schatten auf sie.
    »Ich kann vielleicht helfen?« Lenz Hofer stand direkt vor ihr und blickte zu ihr hinunter. Jenny richtete sich langsam auf.
    *
     
    »Ich will Euch willkommen heißen,
    Denn wer Gutes bringt, seid Ihr.
    Werdet uns die Richtung weisen,
    hin zur Ehre und zur Zier.
    Ich will Euch daher heute
    Geben Speis und Trank.
    Das ist, wenn ihr’s mir erlaubt, mein bescheid’ner Dank
    Für Euch gescheite Leute.«
     
    Die kleine Schar mit Arthur Kammelbach an der Spitze glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Sie hatten das letzte beschwerliche Wegstück durch den dichten Wald hinter sich gebracht, als eine schallende Männerstimme begann, die Verse zu deklamieren, die sie als sehr freie Adaption von Walther von der Vogelweides »Ir sult sprechen willekommen «, des sogenannten Preisliedes,wiedererkannten. Aus dem Burgtor traten ihnen zwei Gestalten entgegen, die einer der mittelalterlichen Darstellungen der großen Liederhandschriften entsprungen zu sein schienen.
    Ein ziemlich kleiner Mann hatte seine füllige Gestalt in eine Art blaue Toga gehüllt, die ihm bis zu den nach oben gebogenen Spitzen seiner Schnabelschuhe reichte. Den Halsausschnitt des Gewandes zierte ein Pelzbesatz von derselben Beschaffenheit wie die Krempe der Kopfbedeckung, unter der ein rötlichblonder Haarkranz hervorschimmerte. Die linke Hand hatte der Mann auf seine Brust oder vielmehr auf die darunter vorragende Wölbung seines Bauches gelegt. Den rechten Arm bot er der neben ihm stehenden Dame, die darauf ihren linken Unterarm samt dem langen, trichterförmig herabhängenden Ärmel platziert hatte. Er war Bestandteil eines Kleides aus dunkelrotem Samt, das von der gegürteten Taille in weichen Falten zu den gebogenen Schuhspitzen herabfiel. Auch hier war der großzügige Ausschnitt mit einer Art Pelz besetzt, der sich als Hutbesatz wiederfand. Über den üppigen Busen legten sich zwei Zöpfe, die bis weit über die Taille reichten.
    Das Einzige, was an dem gesamten Ensemble aus dem Rahmen fiel, war der große Schlüsselbund, den die Dame an ihrem Taillengürtel befestigt hatte. Ansonsten stimmte alles perfekt: Der Herr verkörperte ganz offensichtlich den Sänger Walther von der Vogelweide, wie er in der nach ihrem Aufbewahrungsort benannten »Großen Heidelberger Liederhandschrift« dargestellt wird. Die Dame wiederum war zweifellos die lebensgroße Nachbildung der allegorischen Figur Frau Minne. Nun hob der männliche Part wieder zu sprechen an:
    »Liebreizende Damen, gelehrte Herren, es ist mir eine große Ehre, Euch hier begrüßen zu dürfen«. Bei dieser Anrede begann sich das erste Mitglied der Delegation aus der Erstarrung zu lösen, die bisher alle erfasst hatte. Es war
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