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 Bufo & Spallanzani

Bufo & Spallanzani

Titel: Bufo & Spallanzani
Autoren: Rubem Fonseca
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Delfina wurde von den Männern des Leichenwagens genauso behandelt wie die Bettler, die tot in die Gosse sinken.
    Für Guedes bestand die polizeiliche Arbeit in der Aufklärung von Straftaten und deren Täterschaft. Eine Straftat aufzuklären bedeutete nach der Strafprozeßordnung, den Gesetzesverstoß zu untersuchen. Ihm, dem Polizisten, oblag es nicht, ein Werturteil hinsichtlich der Ungesetzlichkeit des Tatbestandes zu fällen, sondern nur, Beweise für seine Faktizität und die Täterschaft zusammenzutragen und sämtliche Vorkehrungen zur Sicherstellung der bei dem Rechtsverstoß hinterlassenen Spuren zu treffen. Delfina Delamare konnte ermordet worden sein oder Selbstmord begangen haben. Im zweiten Fall gab es, sofern nicht jemand der Anstiftung, Überredung oder Beihilfe zum Selbstmord bezichtigt werden konnte, kein Verbrechen aufzuklären. Selbstmord war kein Verbrechen; die philosophischen Diskussionen – pro und contra – über das Recht zu sterben waren für Guedes nur akademische Übungen. Einem Selbstmörder irgendeine Strafe anzudrohen war sinnlos. Früher hackte man Selbstmördern die rechte Hand ab, pfählte sie, schleifte sie mit dem Gesicht nach unten durch die Straßen, versagte ihnen ein Begräbnis in Ehren; gehörten sie dem Adel an, wurden sie degradiert, zu Plebejern erklärt, man zerbrach ihre Schilde, zerstörte ihre Burgen. Nichts davon hatte abschreckende Wirkung gehabt. Nicht einmal Drohungen mit dem Höllenfeuer konnten viel ausrichten. Dona Delfina soll ihre Ruhe haben, dachte Guedes. Der Spurenexperte hatte gefragt, warum eine reiche und schöne Frau (und gesund war sie bestimmt auch, denn kein Mensch konnte so schön sein, wenn er nicht sehr gesund war) auf ihr Leben verzichtet hatte. »Warum nicht?« hatte Guedes erwidert. Er war schon sehr lange Polizist und glaubte, leben zu wollen sei genauso seltsam wie sterben zu wollen.
    Obwohl er nicht daran zweifelte, daß es sich um einen Selbstmord handelte, stellte Guedes all die Nachforschungen an, die er bei einem Mordfall unternommen hätte. Die Rua Diamantina war eine kleine Straße mit wenigen Wohnblocks und nur zwei Einfamilienhäusern. Guedes fragte in den Hochhäusern und Villen nach, ob irgend jemand etwas über den Fall wußte. Die Schwierigkeit einer solchen Arbeit liegt darin, die Geschwätzigen zu bremsen und die Wortkargen zum Reden zu bringen. Normalerweise reden diejenigen am meisten, die am wenigsten wissen. Aber niemand hatte irgend etwas gesehen oder gehört. Ein Schuß aus einem 22er in einem Auto mit geschlossenen Fenstern machte ja auch wirklich nicht viel Krach.
    Der Polizist aß ein Sandwich an der Ecke der Rua Voluntários da Pátria, wo sich das Gebäude mit der Praxis von Dr. Pedro Baran befand. Vorher war er kurz in eine Buchhandlung gegangen und hatte in einem Lexikon nachgesehen, was der Terminus Onkologie bedeutete.
    »Ja«, sagte Baran, nachdem Guedes ihm von Delfinas Tod und seiner Vermutung, sie habe sich das Leben genommen, berichtet hatte, »sie war meine Patientin, und ihr Selbstmord überrascht mich nicht«.
    Baran griff nach einer Karteikarte, die vor ihm auf dem Tisch lag.
    »Als sie zum erstenmal in meine Praxis kam, hatte der sie behandelnde praktische Arzt, Dr. Askanasi, sie hergeschickt. Sie beklagte sich über nächtliche Schweißausbrüche, Nervosität, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit. Dona Delfina schrieb diese Symptome den Sorgen zu, die sie sich wegen einer bevorstehenden Reise machte. Sie haßte Reisen, wie sie mir sagte, und ihrer Ansicht nach waren die Symptome nur eine psychosomatische Reaktion. Sie irrte sich. Patienten, die Selbstdiagnosen treffen, irren sich immer. Ich habe ihr Blut abgenommen und sie für zwei Tage darauf wieder herbestellt. Aber sie verreiste und kam erst drei Monate später wieder zu mir, jetzt, vor ein paar Tagen. Ich zeigte ihr das Resultat der Untersuchung, das Papier, das Sie da haben: nachgewiesene Leukoblasten – Myeloblasten und Lymphoblasten –, die nur eine einzige Diagnose zuließen. Sie hatte Leukämie, eine verheerende, derzeit noch nicht heilbare Krankheit, deren behelfsmäßige Behandlung aufreibend und schmerzhaft ist. Ich sagte ihr, daß sie meiner Ansicht nach nur noch wenige Monate zu leben habe, riet ihr aber, noch einen anderen Arzt zu konsultieren.«
    »Wie hat sie das aufgenommen?«
    »Sehr gut. Sie wollte die Wahrheit wissen. Es gab so oder so keinen anderen Menschen, dem ich diese Mitteilung hätte machen können; sie trennte sich
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