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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit
Autoren: Wolfgang Engler
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Fragwürdigkeit selbst aber nicht
     schlummernde Potenz, sondern vorherbestimmtes Schicksal; Existenz im Weder-Noch statt im Sowohl-als-Auch.
    2. Aristoteles nimmt diese Klassifikationen in realistischer Absicht auf; ihm schwebt kein Idealstaat vor, sondern die legitime
     Ordnung empirisch vorfindbarer Gesellschaften. Daß sie wirtschaftlich auf der Arbeit Unfreier beruhen, ist für ihn kein Problem,
     sondern eine Erfahrungstatsache, von der er |29| mit derselben Selbstverständlichkeit ausgeht, mit der er die Sklaven, diese »lebendigen Werkzeuge«, aus dem Gemeinwesen aussiebt;
     sie kommen als Bürger und Staatsbürger nicht in Betracht. Und die anderen Bewohner des Reichs der Notwendigkeit, die Bauern,
     Handwerker, Händler, Tagelöhner, wie verhält es sich mit ihnen? Anders als Platon, der die ersten drei sozialen Gestalten
     deutlich von der vierten abhob und der bürgerlichen Gesellschaft zuschlug, zu deren »Untergrund« bestimmte, betont Aristoteles
     ihren bürgerlichen Makel, ihren nur graduellen Abstand vom Proletarierdasein. Die Unterordnung des Lebens unter den Naturzwang,
     unter das Kreatürliche, entehrt für ihn den Menschen im Bürger und daher letztlich den Bürger selbst. Ein »im Handwerk oder
     Tagelöhnerdienst verbrachtes Leben kann die der Tugend zugehörenden Eigenschaften nicht herbeiführen«. Weil die Tugend des
     Bürgers weder dem Bürger noch dem Freien als solchem, sondern ausschließlich jenen innewohnt, welche vom Erwerb des Lebensunterhaltes
     freigestellt sind, 9 gibt es Bürger gröberen und Bürger edleren Seins. Zwar müssen die Landbauern und die Gewerbe und die ganze Klasse der Lohnarbeiter
     im Staate vorhanden sein, anerkannte Teile des Staates bilden aber nur die Waffentragenden und die Beratenden. 10
    Für Aristoteles ist weder der Freie automatisch vollwertiger Bürger, noch der normale Bürger automatisch frei. Die formelle,
     rechtliche Freiheit eines Menschen kann mit substantieller Unfreiheit einhergehen, mit einem Leben im Dienst des Lebenserwerbs,
     das den Bürger als Staatsbürger disqualifiziert. Die bürgerliche Gesellschaft, sofern man darunter das System der Bedürfnisse
     und ihrer Befriedigung versteht, ist das Reich der Beschränkung, der Bindung an elementare Kräfte und Interessen, vom Reich
     der Freiheit abgeschnitten. Wirkliche Freiheit erfüllt sich im Engagement fürs Allgemeine, ist Leben im Geist der praktischen
     oder der theoretischen Vernunft. Dem Sklavendasein entronnen, siedelt die Gruppe der zweifelhaften, weil von Not |30| befleckten Bürger, vom Proletarier bis zum Bauern aufgeschichtet, im Vorhof vernünftiger Existenz.
    Die elitäre Konstruktion verweist zusammen mit der proletarischen Unterschicht die bürgerliche Mehrheit aus der eigentlichen
     Gesellschaft, dem Staat als solchem; das Zwischenreich des Weder-Noch, der schmale Grat des Proleten, dehnt sich zum weiten
     Feld; ein Realismus, der sich der Realität noch entschiedener verweigert als Platons Utopie. Mochte Lebensgewinnung durch
     Arbeit, Tausch und Erwerb auch nicht das Ideal des freien Menschen der (griechischen) Antike sein, so war das Leben der weitaus
     meisten Freien gleichwohl mit Arbeit befaßt, als Landmann, Handwerker, Ladenbesitzer oder Händler. Wer nicht selbst Hand anlegte,
     hatte doch irgendein Geschäft zu führen und zu beaufsichtigen, Lehrlinge geschickt zu machen, zugereiste Gastarbeiter und
     Sklaven zur Arbeit anzuhalten. Aristoteles zeigt sich davon wenig beeindruckt; sein Fazit schließt keinen Kompromiß mit den
     Gegebenheiten: »So viel ist jedenfalls wahr, dass man nicht alle die, ohne welche der Staat nicht bestehen kann, auch als
     Bürger ansehen kann …« 11
    3. Ein erster Merkpunkt für uns Heutige. Große gesellschaftliche Gruppen, ganze Stände, die für den Lebensprozeß des Gemeinwesens
     zu Recht als unentbehrlich galten, wurden vom intellektuellen Diskurs (und der auf ihn sich berufenden politischen Ordnung)
     entweder in soziale Grauzonen abgeschoben oder vollends aus dem Staatswesen ausgefällt; wer ihnen angehörte, war kein ordentlicher
     oder überhaupt kein Bürger. Dagegen gibt es gegenwärtig eine noch anschwellende Zahl von Menschen, die im vollen Umfang Bürger,
     Staatsbürger, für den ökonomischen Bestand des Ganzen aber nicht (mehr) unverzichtbar sind. Korpulenter Bürger, schmächtiger
     Arbeiter, worauf blickt dieses Mißverhältnis? Können erworbene Bürger- und Menschenrechte bar des Notwendigkeitsbeweises,
     des
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