Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Buch Der Sehnsucht

Titel: Buch Der Sehnsucht
Autoren: Anselm Gruen
Vom Netzwerk:
Gott eins bin, bin ich ganz eins, mit allem, was ist. Dann fallen Zeit und Ewigkeit zusammen. In einem Augenblick solchen Einsseins fallen alle Gegensätze zusammen: Es geschieht die coincidentia oppositorum, von der Nikolaus von Kues spricht und in der er das Wesen Gottes sieht. Wenn ich in der Kontemplation mit Gott eins werde, mit Gott verschmelze, dann hört in diesem Augenblick die Zeit auf. Es ist ein Augenblick reiner Gegenwart. Gegenwart und Zukunft fallen zusammen. Ich denke nicht über Vergangenes nach, ich plane nichts Zukünftiges. Von einem solchen Augenblick können wir oft nicht sagen, wie lange er dauert. Die Zeit steht still, weil Gott selbst uns berührt hat.
    Der Mensch - so sagt Augustinus - ist in der Zeit und die Zeit ist in ihm. Er leidet an ihr. Denn die Zeit ist für ihn Ausdruck ständiger Veränderung, und es gibt in ihr nichts Beständiges, nichts, das stehen bleibt. Angesichts ständiger Veränderung richtet sich seine Sehnsucht auf die Ewigkeit. - Augustinus bringt sie so zum Ausdruck: „Du bist mir Trost, Herr, du mein Vater, ewig bist du! Ich aber stecke in der Zeit und weiß nicht, wie sie laufen wird, und wirren Wechsels zersplittert sich mein Denken und all das tiefste Leben meiner Seele, bis ich in dich zerfließe, gereinigt und geläutert in den Gluten deiner Liebe."
    Ewiges Leben ist das Leben, in dem Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch, Himmel und Erde zusammenfallen. Es ist die Fähigkeit des Menschen, mitten in der Zeit Anteil zu haben an der Ewigkeit. Wenn ich ganz im Augenblick bin, wenn ich ganz eins bin mit mir, dann schaue ich hinter den Schleier der Welt, auch hinter den Schleier der Zeit, dann habe ich jetzt schon teil am ewigen Geschmack Gottes, an der Ewigkeit. Wenn wir mit Gott eins werden in der Liebe, dann wird die Zeit aufgehoben, dann ist Ewigkeit mitten in der Zeit, dann bekommt unser Leben mitten in dieser Zeit ewigen Bestand. Papst Gregor der Große erzählt vom heiligen Benedikt, dass er in einem einzigen Sonnenstrahl die ganze Welt erblickte. Die Buddhisten sprechen hier von Erleuchtung. Wer in der Erleuchtung das Eigentliche sieht, der sieht hinter die Zeit, für den ist alles eins. In der Gotteserfahrung, die immer auch Erfahrung des Urgrunds aller Welt ist, komme ich in Berührung mit dem zeitlosen Zeugen in mir selbst, mit dem spirituellen Selbst, das der Zeit enthoben ist. Jede tiefe Erfahrung ist Erfahrung des reinen Seins. Ich schmecke den Geschmack dessen, was ist. Da ist nichts als reines Sein. Jenseits der Zeit. Da ist keine Trennung mehr zwischen Subjekt und Objekt. In solchen Augenblicken wird wirklich, was der Philosoph Boethius gesagt hat: „Ewigkeit ist der vollkommene, in einem einzigen, alles umfassenden Jetzt gegebene Besitz grenzenlosen Lebens." Das ist die Erfüllung unserer Sehnsucht.

    HOFFNUNG UND LICHT

    Der Tod ist nicht die Grenze unserer Hoffnung. Er ist nicht die Mauer, an der unsere Sehnsucht abprallt. Im Gegenteil: Die zentrale Botschaft meines Glaubens heißt: Es gibt keinen Tod, in dem nicht schon der Anfang neuen Lebens ist. Es gibt kein Kreuz, dem nicht die Auferstehung folgt. Es gibt keine Dunkelheit, in der nicht schon das Licht von Ostern aufleuchtet, kein Leid, in dem wir allein gelassen sind. Die Botschaft von Tod und Auferstehung ist aber auch der Appell, unsere große Sehnsucht nach dem Leben produktiv zu machen: aufzustehen gegen alle Hindernisse, die das Leben behindern, gegen ungerechte Strukturen, gegen die vielen Kreuze, die heute täglich aufgerichtet werden. Tod und Auferstehung Jesu machen uns empfänglich für die Leidensgeschichten unserer Zeit, stärken unsere Sehnsucht nach dem Ende dieses Leidens. Aber zugleich befreien sie uns von Bitterkeit und Resignation. Sie sind das Hoffnungszeichen schlechthin. Nach C. G. Jung hängt das Gelingen unseres Lebens davon ab, wie wir mit dem Leid umgehen. Nicht masochistisches Kreisen um das Leid, sondern Durchga ng durch das Leid führt zum Leben. Leben ist die zentrale Botschaft Jesu. Sie lädt uns ein, dem Leben zu dienen, dem Leben des Einzelnen, dem Leben der Gemeinschaft und dem der Schöpfung. Überall dort, wo diese Sehnsucht nach Leben aufblüht, erscheint auch das Leben, von dem das Johannesevangelium spricht.

    SELBSTVERGESSEN

    In der Sinnlichkeit, in der Erfahrung der Lust mit allen Sinnen, steckt die Sehnsucht nach Ewigkeit. Auch hier meint Ewigkeit keine lange Dauer. Lust kann gar nicht über lange Zeit erfahren werden. Wenn ich mich vergesse; wenn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher