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Buch Der Sehnsucht

Titel: Buch Der Sehnsucht
Autoren: Anselm Gruen
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von der Ekstase. Es gibt auch die Trockenheit der Wüste und die „dunkle Nacht", von der Johannes vom Kreuz spricht. Nietzsche hat also Recht: Den Weg der Mystik gehe ich erst, wenn meine Sehnsucht sich mit meiner Verzweiflung paart. Auch wenn es mir gut geht, kann ich mich nach Gott sehnen. Aber meine Sehnsucht ist nicht stark genug, alle meine Kräfte auf die Gottsuche zu konzentrieren. Erst die Verzweiflung zwingt mich, mich ganz und gar ihm zuzuwenden. In der Verzweiflung bekommt die Sehnsucht Flügel. Da trägt sie mich über mich hinaus in die Arme dessen, in dem ich mich geborgen weiß.

    „DURCHSEELT UND DURCHSCHMERZT"

    Mystik ist kein behaglicher Ort. Nicht nur an der Erfahrung der alten Mystiker wird dies deutlich, sondern auch im Zeugnis einer modernen Dichterin, Nelly Sachs. Die Mystik ihrer Sehnsucht hat in unaufhörlichen Geburtswehen diesen Ort in der Sprache immer wieder neu erschaffen. In einem Brief vom 9. Januar 1958 erläutert Nelly Sachs Paul Celan, dem großen jüdischen Dichter, der in Paris lebt, ihr tiefstes Glaubensbekenntnis: „Es gibt und gab und ist mit jedem Augenblick in mir der Glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit wozu wir angetreten. Ich glaube an ein unsichtbares Universum, darin wir unser dunkel Vollbrachtes einzeichnen. Ich spüre die Energie des Lichtes, die den Stein in Musik aufbrechen lässt, und ich leide an meinem Leibe, an der Pfeilspitze der Sehnsucht, die uns von Anbeginn zu Tode trifft und die uns stößt, außerhalb zu suchen, dort wo die Unsicherheit zu spülen beginnt. Vom eignen Volk kam mir die chassidische Mystik zu Hilfe, die eng im Zusammenhang mit aller Mystik sich ihren Wohnort weit fort von allen Dogmen und Institutionen immer aufs neue in Geburtswehen schaffen muss." Nelly Sachs ist überzeugt davon, dass die ganze Welt voll von Sehnsucht ist. Sie sieht ihre Aufgabe als Dichterin darin, den Staub, d. h. diese Welt, mit ihrer Sehnsucht zu durchseelen und zu durchschmerzen. Sie spricht von der Welt so, dass sie unsere Sehnsucht nach Gott weckt. Diese Sehnsucht ist aber nicht nur schmerzlich, sondern sie ist wie Licht und wie Musik, die in allen Dingen, sogar im Stein aufbrechen möchte. Was ihr als verfolgte Jüdin und sensible Dichterin widerfährt, empfindet sie als ein Leiden an der Pfeilspitze der Sehnsucht. Von Geburt an trägt sie diese Sehnsucht in sich. Sie hat sie zu Tode getroffen. Die vielen Tode, die sie in ihren Gedichten betrauert, zwingen sie, diese Welt mit ihrer Sehnsucht zu übersteigen. Auf ihrem spirituellen Weg ist ihr die chassidische Mystik zu Hilfe gekommen. Ihre Dichtung, die die Sprache der Sehnsucht spricht, ist zugleich Ausdruck ihrer Mystik, die in allem den verborgenen Gott sieht. Mitten in dieser unwirtlichen Welt, mitten in der grausamen Welt des Völkermordes, schafft ihr die Mystik einen Wohnort - „immer aufs neue in Geburtswehen".

    IM SCHRAUBSTOCK DER SEHNSUCHT

    Als Nelly Sachs vor den Nazis nach Schweden fliehen musste, fand sie sich in einer fremden Sprachwelt wieder. Sie musste schreiben, um zu überleben. Und sie schuf eine neue Sprache der Sehnsucht, die immer neue Wortschöpfungen wagte. Eine Prinzessin, die das eingefrorene Zeitalter (wohl ein Hinweis auf das Dritte Reich) überlebte, nennt sie „sehnsuchtsverrenkt". Die Stärke ihrer Sehnsucht hat ihr die Glieder verrenkt. Aber sie hat sie gleichzeitig die Kälte überleben lassen. Dieses Bild erinnert an den Jakobskampf, als der Engel Jakob die Hüfte verrenkt. Für die jüdische Dichterin wird Jakob vom Engel „zu Gott verrenkt". Sehnsucht fährt mir in die Knochen. Sie nimmt mir die alte Sicherheit. Sie renkt mir das Gelenk aus, damit ich mich von Gott führen lasse wie Jakob. Durch meine Sehnsucht befähigt mich der göttliche Segen, meinem eigenen Schatten zu begegnen, ohne mich von ihm überwältigen zu lassen. Sehnsucht verwandelt mich und lässt mich heil davonkommen aus der Nacht dieses Lebens. Doch Nelly Sachs spricht auch davon, dass der Mensch verrenkt ist „im Schraubstock der Sehnsucht". Die Sehnsucht kann wie ein Schraubstock wirken. Sie hält uns gefangen. Menschsein heißt, voller Sehnsucht sein. Doch zugleich gilt: „Der Himmel übt an dir Zerbrechen. Du bist in der Gnade."

    Wer sich vom Schraubstock der Sehnsucht zu Gott hinbiegen lässt, der ist in der Gnade. Dann wird die „Wunde, die unser Wohnort ist", zum Ort der Gnade, zum Ort, an dem wir Gottes heilende Nähe
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