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Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Titel: Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Autoren: Donna Leon
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Wenn er bestimmte Wirkstoffe in der richtigen Reihenfolge zusammenführte - erst diesen und dann jenen -, so erfüllte er damit einen göttlichen Plan. Indem er seinen Patienten die heilbringenden Mixturen verabreichte, erlebte er die Krönung seiner bescheidenen Rolle in diesem allumfassenden Plan des Herrn.
    Die Einwegspritze in ihrer durchsichtigen Plastikhülle lag in der obersten Schublade. Er riß die Verpackung auf und pumpte die Luft aus dem Kolben, um sich zu vergewissern, daß er reibungslos funktionierte. Dann stieß er die Nadel in die Säure, wobei er mit der linken Hand die Flasche gerade hielt, und zog, immer die Zahlenskala am Flaschenrand im Blick, langsam die Spritze auf. Vorsichtig nahm er danach die Nadel wieder heraus, tupfte die Spitze behutsam ab und hielt sie über das Mischgefäß. Fünfzehn Tropfen, und keinen mehr.
    Er war bei elf angelangt, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. War das die Tür? Aber wer würde es wagen, die zu öffnen, ohne vorher anzuklopfen? Er durfte den Blick nicht von der Spritze wenden, denn falls er sich verzählte, würde er das Porzellanschälchen auswaschen und noch einmal ganz von vorn anfangen müssen. Und auch wenn die Menge kaum ins Gewicht fiel, wollte er den städtischen Wasserhaushalt nicht mit dieser giftigen Lösung belasten. Manch einer mochte so viel Vorsicht lächerlich finden, doch selbst fünfzehn Tropfen Salzsäure konnten möglicherweise einen bislang unbekannten Schaden anrichten.
    Leiser, als sie aufgegangen war, fiel die Tür ins Schloß, gleichzeitig mit dem letzten Tropfen, den er ins Mischgefäß zählte. Er drehte sich um und erblickte einen seiner Patienten; das heißt, eigentlich war es eher ein Kollege, nicht wahr?
    »Ah, Dottor Pedrolli!« rief er, hörbar erstaunt. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.« Er formulierte es so zurückhaltend, weil er einen Arzt, einen Mann, der ihm hinsichtlich Ausbildung und Kompetenzen überlegen war, nicht kränken wollte. Und er redete ihn mit »Lei« an, eine Respektsbezeugung, die er allen Medizinern zukommen ließ, egal wie lange sie schon zusammenarbeiteten. Außerhalb der Apotheke hätte er vielleicht gern zum vertraulichen »tu« gewechselt, um so eine gewisse Kollegialität zu demonstrieren. Aber die Ärzte siezten ihn alle konsequent weiter, und mit den Jahren war diese Förmlichkeit ihm zur zweiten Natur geworden. Er wertete die Anrede als ein Zeichen von Hochachtung vor ihm und seiner Stellung und war irgendwann stolz darauf. Jetzt streifte er die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Papierkorb, bevor er dem Arzt seine Hand hinstreckte.
    »Ich wollte mit Ihnen sprechen, Dottor Franchi«, sagte Pedrolli mit leiser Stimme. Er wirkte aufgeregt, was ungewöhnlich war für ihn, der sonst immer so einen ruhigen Eindruck machte.
    »Wer hat Sie hereingelassen?« fragte Franchi, achtete dabei aber auf einen verbindlichen Ton, der höchstens Neugier und keinen Ärger verriet. Sein Personal würde nur im äußersten Notfall wagen, sich über seine Instruktionen hinsichtlich der Labortür hinwegzusetzen.
    »Ihr Kollege, Dottor Banfi. Ich habe ihm gesagt, ich käme wegen eines Patienten und müßte Sie dringend sprechen.«
    »Um wen geht es denn?« fragte der Apotheker, ehrlich erschrocken, weil offenbar einer seiner Patienten erkrankt war oder in Gefahr schwebte. Rasch ging er die Namen der Kinder durch, die bei Dottor Pedrolli in Behandlung waren: Vielleicht handelte es sich ja um chronische Beschwerden, und wenn er den Patienten erriet und gleich die Medizin herrichtete, könnte er wertvolle Sekunden sparen, ja, einem armen Kranken einen wertvollen Dienst erweisen.
    »Um meinen Sohn«, sagte Pedrolli. Das ergab keinen Sinn. Franchi hatte, übrigens mit großem Erstaunen, von der Razzia der Carabinieri gehört und davon, was in Pedrollis Haus vorgefallen war. Seitdem konnte man das Kind doch wohl nicht mehr zu seinen Patienten zählen.
    »Aber ich dachte ...«, begann der Apotheker und unterbrach sich jäh, als ihm der Gedanke kam, daß die Pedrollis den kleinen Sohn vielleicht zurückbekommen hatten. »Ist er ...?« setzte Franchi aufs neue an, wußte aber nicht, wie er die Frage zu Ende bringen sollte.
    »Nein«, sagte Pedrolli mit seiner eigentümlich leisen Stimme, die hier in diesem kleinen Raum, der normalerweise alle Geräusche verstärkte, besonders auffiel. »Nein, er ist nicht wieder da«, ergänzte der Arzt. Ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Und er kommt auch
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