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Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Titel: Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Autoren: Donna Leon
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Das Mädchen schlängelte sich an ihr vorbei, öffnete die Tür und trat beiseite, um Paola den Vortritt zu lassen: eine Artigkeit, von der Paola sehr angetan war, auch wenn genau das sie andererseits irritierte. Nicht weil es ihr wichtig schien, sondern nur weil die Antwort das Mädchen vielleicht ermuntern würde, sich näher zu erklären, fragte sie: »Ist es Ihre Großmutter mütterlicher- oder väterlicherseits?«
    »Eigentlich weder noch, Professoressa.«
    Paola versprach sich eine stattliche Belohnung für all die unausgesprochenen Kommentare, die sie sich bei dieser Unterhaltung, falls es denn eine war, bislang schon versagt hatte. »Also eine Art ehrenamtlicher Großmutter?«
    Claudia lächelte, ein Lächeln, das sich vor allem in ihren Augen spiegelte und dadurch um so einnehmender wirkte. »Genau. Sie ist nicht meine richtige Großmutter, aber ich habe sie immer so genannt. Nonna Hedi. Weil sie nämlich Österreicherin ist, verstehen Sie.«
    Paola verstand nicht, forschte aber trotzdem weiter: »Ist sie mit Ihren Eltern verwandt, eine Großtante oder so was?«
    Die Frage war dem Mädchen sichtlich unangenehm. »Nein, sie ist überhaupt nicht verwandt mit uns.« Sie zögerte, dachte nach und platzte dann heraus: »Sie war eine Freundin meines Großvaters, verstehen Sie?«
    »Ah«, sagte Paola. Das wurde alles sehr viel komplizierter, als die schlichte Bitte des Mädchens hatte vermuten lassen, weshalb Paola nachhakte: »Und was wollten Sie nun von mir wissen?«
    »Also eigentlich wollte ich etwas von Ihrem Mann, Professoressa.«
    Paola war so überrascht, daß sie nur wiederholen konnte: »Von meinem Mann?«
    »Ja. Er ist doch bei der Polizei, oder?«
    »Stimmt, ja.«
    »Und da wollte ich Sie bitten, ob Sie ihn etwas für mich fragen würden, das heißt: für meine Großmutter.«
    »Sicher. Und was, bitte, soll ich ihn fragen?«
    »Also, ob er sich mit Begnadigungen auskennt.«
    »Begnadigungen?«
    »Ja. Mit der Begnadigung von Straftätern.«
    »Meinen Sie eine Amnestie?«
    »Nein, Amnestien erteilt die Regierung, wenn die Gefängnisse überfüllt sind und der Unterhalt der Häftlinge zu teuer wird: Dann lassen sie einfach alle frei und geben zur Begründung irgendein denkwürdiges Ereignis an. Aber davon spreche ich nicht. Ich meine einen individuellen Straferlaß, den offiziellen Widerruf, daß jemand ein ihm zur Last gelegtes Verbrechen nicht begangen hat.«
    Unterdessen waren sie langsam die Treppen vom vierten Stock hinuntergestiegen, aber jetzt blieb Paola stehen. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann, Claudia.«
    »Das macht nichts, Professoressa. Ich wollte mich zuerst bei einem Anwalt kundig machen, aber der verlangt fünf Millionen Lire für die Auskunft, und da fiel mir ein, daß Ihr Mann bei der Polizei ist, also dachte ich, vielleicht könnte er mir weiterhelfen.«
    Paola deutete mit einem flüchtigen Nicken an, daß sie verstanden habe. »Könnten Sie mir genau erklären, was ich ihn fragen soll, Claudia?« »Ob es eine juristische Möglichkeit gibt, jemanden, der inzwischen verstorben ist, nachträglich in einer Sache zu rehabilitieren, derentwegen er zu Lebzeiten vor Gericht stand.«
    »Nur vor Gericht stand?«
    »Ja.«
    Paolas Stimme verriet, daß sie ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt sah. »Er wurde nicht verurteilt und ins Gefängnis geschickt?«
    »Nicht direkt. Das heißt, verurteilt hat man ihn schon, aber er kam nicht ins Gefängnis.«
    Paola lächelte und legte dem Mädchen die Hand auf den Arm. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Verurteilt, aber nicht inhaftiert? Wie ist das möglich?«
    So wie das Mädchen jetzt übers Treppengeländer nach der offenen Eingangstür spähte, hätte man glauben können, sie wolle vor Paolas Fragen fliehen. Aber dann wandte sie sich ihr wieder zu und antwortete: »Weil das Gericht ihn für unzurechnungsfähig erklärte.«
    Paola, die sich hütete, nach der Identität dieser Person zu fragen, überdachte die Antwort, ehe sie weiterforschte: »Und wohin kam er statt dessen?«
    »Nach San Servolo. Und dort ist er gestorben.«
    Wie alle Venezianer wußte auch Paola, daß auf der Insel San Servolo früher die städtische Irrenanstalt untergebracht war, und zwar so lange, bis mit Inkrafttreten der Legge Basaglia die Irrenhäuser geschlossen und die Patienten entweder freigelassen oder in weniger abschreckende Institutionen überstellt wurden.
    Obwohl sie ahnte, daß das Mädchen es ihr nicht sagen würde, fragte Paola: »Wollen Sie
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