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Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Titel: Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Autoren: Donna Leon
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    D ie Bombe platzte beim Frühstück. Und auch wenn Brunetti als Commissario der venezianischen Polizei eher auf so eine Explosion gefaßt sein mochte als andere Leute, hätte der Schauplatz nicht ungewöhnlicher sein können. Der hatte indes nichts mit seinem Beruf zu tun, sondern betraf Brunetti privat, als Ehemann einer Frau von leidenschaftlicher, wenngleich sprunghafter Wahrnehmung und politischer Gesinnung.
    »Warum lesen wir dieses widerliche Revolverblatt eigentlich noch?« explodierte Paola und knallte den zusammengefalteten Gazzettino so wütend auf den Frühstückstisch, daß die Zuckerdose umkippte.
    Brunetti beugte sich vor, schob mit dem Zeigefinger die Zeitungsecke beiseite und richtete die Zuckerdose wieder auf. Dann nahm er sich eine zweite Brioche und biß hinein in der Gewißheit, daß eine Erklärung folgen würde.
    »Hör dir das an! « Paola griff nach der Zeitung und las die Überschrift des Aufmachers auf der Titelseite vor: »›Fulvia Prato enthüllt ihre grausame Leidensgeschichte‹« Wie ganz Italien wußte auch Brunetti, daß Fulvia Prato, die Frau eines schwerreichen Florentiner Industriellen, vor dreizehn Monaten entführt und von den Kidnappern in einem Keller gefangengehalten worden war. Seit ihrer Befreiung durch die Carabinieri vor zwei Wochen hatte sie am Vortag erstmals ein Interview gegeben. Brunetti konnte sich nicht denken, was Paola an dieser Schlagzeile so empörte.
    »Und dann das«, sagte sie und blätterte weiter zur Seite fünf. »›Eingeständnis einer EU-Ministerin: Sexuelle Belästigung an früherem Arbeitsplatz.‹« Auch dieser Fall war Brunetti bekannt: Eine EU-Kommissarin (an ihr Ressort konnte er sich nicht erinnern - eins dieser belanglosen Referate, die man gern den Frauen überließ) hatte gestern auf einer Pressekonferenz zu sexuellen Übergriffen Stellung genommen, denen sie vor zwanzig Jahren, als Mitarbeiterin einer Hoch- und Tiefbaufirma, ausgesetzt war.
    Mit einer Langmut, die er sich in über zwanzig Ehejahren erworben hatte, wartete Brunetti Paolas Erklärung ab. »Ist es nicht unglaublich, wie sie mit ihrer Wortwahl manipulieren? Das Entführungsopfer enthüllt und prangert an, aber die arme Frau, der man Gewalt angetan hat, die gesteht, so als läge die Schuld bei ihr. Und wie typisch für diese rückständigen Zeitungsfritzen«, fauchte Paola und stach wütend auf das Blatt ein, »sich hinter der Worthülse ›sexuelle Belästigung‹ zu verschanzen, statt die Dinge beim Namen zu nennen. Gott, ich weiß wirklich nicht, warum wir uns dieses Käseblatt halten.«
    »Kaum zu glauben, nicht wahr?« stimmte Brunetti zu, nun selbst ehrlich schockiert über die unterschiedlichen Formulierungen und mehr noch darüber, daß er das verbale Mißverhältnis erst bemerkt hatte, als Paola ihn mit der Nase darauf stieß.
    Vor Jahren hatte er die Temperamentsausbrüche, zu denen die Lektüre der Morgenzeitungen seine Frau verleitete, mit sanftem Spott ihre »Kaffeepredigten« getauft. Aber mit der Zeit lernte er, daß in scheinbarem Wahn tiefere Einsicht walten kann.
    »Hast du je mit solchen Fällen zu tun gehabt?« fragte Paola. Und da sie ihm die untere Zeitungshälfte hinhielt, wußte er, daß nicht die Entführung gemeint war.
    »Einmal, aber das ist schon lange her.«
    »Wo war das?«
    »In Neapel. Als ich dort stationiert war.«
    »Und was ist da vorgefallen?«
    »Eine Frau kam auf die Wache, um eine Vergewaltigung anzuzeigen. Sie wollte eine offizielle denuncia machen.« Er hielt inne und dachte nach, um sich den Fall wieder zu vergegenwärtigen. »Gegen ihren eigenen Mann.«
    Auch Paola ließ eine Pause verstreichen, bevor sie nachhakte: »Und?«
    »Die Befragung übernahm der Commissario, dem ich damals unterstellt war.«
    »Und?«
    »Er riet ihr, sich gut zu überlegen, was sie da tue, daß sie ihren Mann in große Schwierigkeiten bringen würde.«
    Diesmal genügte Paolas Schweigen, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.
    »Sowie die Frau das hörte, sagte sie, sie brauchte Bedenkzeit, und ging.« Er sah sie immer noch vor sich, wie sie mit hängenden Schultern das Büro verließ. »Sie ist nicht wiedergekommen. «
    Paola seufzte, dann fragte sie: »Hat sich seitdem viel verändert?«
    »Ein bißchen was schon.«
    »Zum Besseren?«
    »Nun ja, immerhin versuchen wir heute, die erste Befragung weiblichen Beamten zu überlassen.«
    »Was heißt, ihr versucht es?«
    »Sofern Kolleginnen im Dienst sind, wenn so ein Fall zur Anzeige kommt, übernehmen
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