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Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima

Titel: Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Autoren: Donna Leon
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mir verraten, um was für ein Verbrechen es sich handelt?«
    »Nein, ich glaube nicht«, sagte Claudia im Hinuntergehen. Am Fuß der Treppe drehte sie sich um und rief Paola zu: »Werden Sie ihn fragen?«
    »Natürlich«, antwortete Paola, die mittlerweile ebenso daran interessiert war, ihre eigene Neugier zu befriedigen wie diesem Mädchen einen Gefallen zu tun.
    »Danke, Professoressa. Dann also bis nächste Woche, in der Vorlesung.« Damit wandte Claudia sich zum Ausgang, wo sie noch einmal stehenblieb und zu Paola aufblickte. »Die Bücher haben mir wirklich gefallen, Professoressa«, rief sie nach oben. »Und daß Lily so sterben mußte, hat mir das Herz gebrochen. Aber es war ein ehrenhafter Tod, nicht wahr?«
    Paola nickte, froh, daß offenbar wenigstens eine verstanden hatte, worauf es ankam.

2
    B runetti war an diesem Vormittag so sehr damit beschäftigt, den alarmierenden Anstieg der Kleinkriminalität in Venedig zu verfolgen, daß er nicht dazu kam, über etwas so Abstraktes wie Ehre und Ehrbegriffe nachzudenken. Bisweilen hatte es den Anschein, als sei das alles, was sie in der Questura machten: Formulare ausfüllen und in die Ablage geben, Listen erstellen und die Zahlen so auslegen, daß die Kriminalstatistik ihre für die Öffentlichkeit so beruhigend niedrige Quote halten konnte. Aber weil er einsah, daß exakte Bewertungen noch mehr Schreibarbeit erfordern würden, brachte er den leidigen Papierkram, wenn auch murrend, hinter sich.
    Kurz vor zwölf, als er eben sehnsüchtig ans Mittagessen zu denken begann, klopfte es. Brunetti rief: »Avanti!«, und als er aufblickte, stand Alvise in der Tür.
    »Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Commissario«, sagte der Beamte und lächelte.
    »Wer denn?«
    »Oh, hätte ich mir den Namen geben lassen sollen?« fragte Alvise, ehrlich erstaunt über ein solches Ansinnen.
    »Nein, schicken Sie ihn einfach rein«, sagte Brunetti ergeben.
    Alvise trat zurück und winkte mit ausgestrecktem Arm - eine Geste, die er offenbar den Verkehrspolizisten in italienischen Filmen mit ihrer weißbehandschuhten Grandezza abgeguckt hatte und die Brunetti glauben machte, es stünde womöglich kein Geringerer als der Präsident der Republik persönlich vor der Tür. Also schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich, wie um nicht hinter dem beflissenen Alvise zurückzustehen. Doch als er Marco Erizzo hereinkommen sah, ging er um den Schreibtisch herum, begrüßte seinen alten Freund erst mit Handschlag, umarmte ihn dann und tätschelte ihm den Rücken.
    Brunetti trat zurück und musterte das vertraute Gesicht. »Marco, das ist aber eine Freude! Mein Gott, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Es war - wie lange? - ein, vielleicht sogar zwei Jahre her, seit sie sich zuletzt getroffen hatten, aber Marco hatte sich nicht verändert. Sein Haar war immer noch von diesem satten Kastanienbraun und so wuschelig, daß kein Friseur es hätte bändigen können, und um seine Augen strahlte ein reicher Kranz von Lachfältchen.
    »Was glaubst du, wo ich gewesen bin, Guido?« fragte Marco zurück. Er sprach Venezianisch mit dem starken Giudeccha-Akzent, mit dem ihn seine Klassenkameraden gehänselt hatten, als er und Brunetti vor fast vierzig Jahren zusammen in die Grundschule gingen. »Hier, zu Hause, bei der Arbeit.«
    »Geht's euch gut?« Indem er die Frage im Plural stellte, bezog Brunetti Erizzos Ex-Frau und ihre beiden Kinder sowie seine jetzige Lebensgefährtin und die gemeinsame Tochter mit ein.
    »Alle gesund, alle wohlauf«, sagte Marco, eine Floskel, die zu seiner Standardreplik geworden war. Stets war alles in bester Ordnung, immer waren alle wohlauf. Aber was hatte ihn dann an diesem schönen Oktobermorgen in die Questura geführt, obwohl er doch angesichts seines weitverzweigten Firmenimperiums gewiß Dringlicheres zu tun hatte?
    Marco schaute auf seine Armbanduhr. »Zeit für un 'ombra?«
    Ein geborener Venezianer hatte nach elf Uhr vormittags immer Zeit für ein Gläschen Wein, und so ließ auch Brunetti sich ohne weiteres überreden.
    Auf dem Weg zu der Bar am Ponte dei Greci plauderten sie über dies und jenes: ihre Familien, alte Freunde, darüber, wie schade es sei, daß man so selten dazukam, mehr als ein kurzes Hallo auf der Straße zu tauschen, bevor jeder weiterhetzen mußte, um sich dem zu widmen, was immer seine Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
    In der Bar wollte Brunetti sich an den Tresen stellen, aber
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