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Bruderherz

Titel: Bruderherz
Autoren: Blake Crouch
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dem Tod meines Vater und eines Bruders, den ich seit über dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, bedeutete mir Familie kaum noch etwas. Meine Freunde stützten mich, denn im Grunde war ich gar nicht der Einsiedler, für den die meisten mich hielten. Ich brauchte Freunde.
    Auf dem Foto beugte sich meine Mutter über das Grab meines Vaters, um im Schatten des Grabsteins einen karminrot blühenden Cannabusch zu beschneiden. Während sie mit der Pflege des kleinen Fleckens Erde ihres Mannes beschäftigt ist, sieht man unter den Blüten des Magnolienbaums, auf den zu klettern mein Vater mir beigebracht hatte, nur ihr markantes, gütiges Gesicht und dahinter verschwommen wachsgrüne Blätter.
    Der vierte Klingelton…
    »Hast du die Leiche gesehen?«
    Es klang, als ob der Mann durch ein Handtuch spräche. Keinerlei Emotion oder Zögern in seiner Stakkatostimme.
    »Ja.«
    »Ich habe sie mit deinem Tranchiermesser aufgeschlitzt und das Messer in deinem Haus versteckt. Es ist übersät mit deinen Fingerabdrücken.« Er räusperte sich. »Vor vier Monaten hast du dein Blut bei Dr. Xu checken lassen. Dort wurde ein Reagenzglas verschlampt. Erinnerst du dich, dass du dir ein zweites Mal Blut abnehmen lassen musstest?«
    »Ja.«
    »Ich habe das Reagenzglas gestohlen. Die Hälfte des Blutes klebt auf Rita Jones’ weißem T-Shirt, der Rest auf anderen.«
    »Was für anderen?«
    »Ein Telefonanruf von mir genügt und du verbringst den Rest deines Lebens im Gefängnis, vermutlich sogar in der Todeszelle…«
    »Ich möchte nur, dass Sie…«
    »Halt die Klappe. Du wirst ein Flugticket in der Post finden. Nimm diesen Flug. Bring Klamotten und Waschzeug mit, sonst nichts. Du hast den letzten Sommer in Aruba verbracht. Sag deinen Freunden, dass du wieder dorthin fliegst.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich weiß vieles, Andrew.«
    »Mein Buch erscheint in Kürze«, flehte ich. »Die Lesereise ist bereits geplant. Meine Agentin…«
    »Lüg ihr was vor.«
    »Sie wird nicht verstehen, dass ich einfach so wegfahre.«
    »Scheiß auf Cynthia Mathis! Lüg sie zu deiner eigenen Sicherheit an, denn wenn ich auch nur den Verdacht habe, dass du jemanden mitbringst oder irgendjemand davon erfährt, dann garantiere ich dir, dass du entweder im Gefängnis landest oder stirbst. Und ich hoffe, du bist nicht so dumm und versuchst diese Nummer zu recherchieren. Ich gebe dir mein Wort, dass sie gestohlen ist.«
    »Wer garantiert mir, dass mir nichts geschieht?«
    »Niemand. Aber sollten wir dieses Gespräch beenden, ohne dass ich überzeugt bin, dass du diesen Flug nehmen wirst, dann rufe ich noch heute Abend die Polizei an. Oder vielleicht besuche ich dich auch, während du schläfst. Du wirst diese Smith & Wesson für eine Weile aus der Hand legen müssen.«
    Ich sprang auf und drehte mich um, die Waffe mit schweißnassen Händen krampfhaft umklammert. Das Haus war ruhig, nur von der Veranda her erklang leise ein Windspiel. Ich schaute durch die großen Fenster des Wohnzimmers über den schwarzen See, auf dessen vom Wind gekräuselter Oberfläche sich die Lichter der Anlegestege spiegelten. Das blaue Licht am Ende von Walters Steg schien von einer schmalen Bucht hinaus über das Wasser. Wir nannten es sein Gatsby-Licht. Mein Blick wanderte über den Rasen bis zu den Bäumen, doch es war viel zu dunkel, um irgendetwas im Wald erkennen zu können.
    »Ich bin nicht im Haus«, sagte er. »Setz dich wieder.«
    Ich spürte etwas in mir aufwallen – Wut über meine Angst, Zorn über diese Ungerechtigkeit.
    »So läuft das nicht«, erklärte ich. »Ich werde jetzt auflegen, 911 wählen und es darauf ankommen lassen. Sie können…«
    »Wenn du meinst, dein Selbsterhaltungstrieb ist nicht Ansporn genug, dann wäre da noch eine ältere Frau namens Jeanette, der ich…«
    »Ich bringe Sie um!«
    »Fünfundsechzig, verwitwet; ich schätze, sie freut sich über ein bisschen Gesellschaft. Was meinst du? Muss ich deiner Mutter erst einen kleinen Besuch abstatten, um dir zu beweisen, wie ernst es mir ist? Sag mir einfach, dass du dieses Flugzeug nehmen wirst, Andrew. Nur damit ich heute Abend nicht noch bei deiner Mutter vorbeischauen muss.«
    »Ich werde das Flugzeug nehmen.«
    Es klickte und das Gespräch war beendet.

Kapitel 2
     
    Regentropfen platschten auf den Gehweg, als ich am schwülen Morgen des 3. Juni die Tür meines Seehauses hinter mir abschloss und einen riesigen schwarzen Seesack zu einem weißen Cadillac DeVille trug. Walter Lancing öffnete
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