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Bruderherz

Titel: Bruderherz
Autoren: Blake Crouch
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Planeten tauchen langsam am Nachthimmel auf. Der Mond geht über den Winds-Bergen in meinem Rücken auf und sein Licht wirft meinen Schatten auf die Straße. Der leere, bereifte Highway erstreckt sich nach Norden und Süden, so weit ich sehen kann.
    Mir ist sehr kalt. Ich stehe auf und stampfe auf der Straße herum. Statt mich wieder auf den Standstreifen zu setzen, gehe ich in eine knietiefe Schneeverwehung hinein und forme einen Schneeengel. Ich liege flach auf dem Rücken, eine weiße Wand umschließt mich, und das Einzige, was ich noch sehen kann, ist das Weltall. Das Einzige, was ich noch spüre, ist die beständig zunehmende Kälte.
    Meine Gedanken sind wie elektrisiert.
    Ich denke an Orsons Gedicht. Trotzig. Vielleicht mutig.
    Wenn wir deinen Tunnel nie betreten hätten, würden wir dennoch in dieser Wüste sein.
    Mutter…
    Walter…
    Ich werde nicht nach North Carolina zurückkehren.
    Mit zunehmender Kälte scheint der Wahnsinn weiter abzuebben und mein Verstand wird klar.
    Ein Gefühl des Friedens überkommt mich.
     
    Fast wäre ich eingeschlafen, als das entfernte Dröhnen eines Automotors an mein Ohr dringt. Einen Moment lang überlege ich, ob ich hier liegen bleiben und sterben soll. Ich habe aufgehört zu zittern, eine falsche Wärme durchströmt mich.
    Ich setze mich mühsam auf. Scheinwerfer tauchen auf und zeigen nach Norden von Rock Springs weg. Ich stehe auf, klopfe mir den Schnee von Percys Anorak und Skihose und trotte steif auf die Straße. Ein Sattelschlepper, schätze ich, stelle mich auf die gestrichelte Linie und wedle mit den Armen, bis ich in den Lichtkegel komme.
    Zu meiner Überraschung hält die Stoßstange eines langen, weißen Station-Wagons keine drei Meter vor mir. Als ich mich der Fahrerseite nähere, lässt ein junger Mann die Scheibe herunter und lächelt mir entgegen, bis er die Blutergüsse in meinem Gesicht sieht. Seine hübsche Frau stützt den Ellbogen auf die Mittelkonsole und mustert mich aufmerksam. Ihre eine Gesichtshälfte wird von der Hintergrundbeleuchtung der Uhr im Armaturenbrett bläulich erhellt. Auf den Rücksitzen schlafen drei Kinder. Sie liegen übereinander zwischen einem Haufen kleiner Spielsachen.
    »Alles in Ordnung?«, fragt der Ehemann.
    »Ich weiß nicht. Ich muss nur… müsste in die nächste Stadt mitgenommen werden. Wo auch immer Sie hinfahren. Bitte!« Der Mann blickt zu seiner Frau. Sie spitzt die Lippen.
    »Wo ist Ihr Wagen?«
    »Ich habe keinen.«
    »Wie sind Sie dann hierher gekommen?«
    »Würden Sie mich bitte bis in die nächste Stadt mitnehmen? Sie sind die Ersten, die heute Abend hier vorbeigekommen sind.«
    Der Mann dreht sich wieder zu seiner Frau. Sie beraten sich mit Blicken.
    »Schauen Sie, wir wollen unsere Familienangehörigen in Montana besuchen«, sagt er. »Aber Pinedale liegt ungefähr fünfzig Meilen von hier. Bis dorthin nehmen wir Sie mit. Sie können hinten einsteigen.«
    »Danke. Ich hol schnell meine Sachen.«
    »Richard…«, murrt seine Frau.
    Ich hebe meine Koffer aus dem Schnee und gehe zum hinteren Teil des Station-Wagons. Ich öffne die Hecktür, verstaue mein Gepäck auf dem Boden und klettere hinein.
    »Bitte seien Sie leise dort hinten«, flüstert die Frau. »Wir wollen, dass sie die Nacht durchschlafen.« Sie zeigt auf ihre Kinder, als wären es ausgestellte Edelsteine.
    Die hinterste Sitzbank ist herausgenommen worden, daher setze ich mich auf den Boden zwischen das Gepäck der Familie: eine rote Kühlbox, Seesäcke, Koffer, ein mit Spielsachen gefüllter Wäschekorb. Mit den Koffern neben meinen Füßen lehne ich mich an die Kühlbox und ziehe die Knie bis zum Kinn hoch. Als wir losfahren, schaue ich aus dem Heckfenster und beobachte, wie der vom Mondschein beleuchtete Highwaystreifen zwischen den Reifen mit zunehmender Geschwindigkeit immer schneller ausgerollt wird.
    Eine halbe Stunde lang führt die Straße sanft bergauf. Als wir ein Plateau erreichen, blicke ich zurück über das öde Flachland und halte nach zwei schwarzen Punkten in der unendlichen Schneelandschaft Ausschau.
    Auf dem Vordersitz flüstert die Frau: »Du bist süß, Rich.« Sie streichelt über den Nacken ihres Mannes.
    Die Lüftung bläst Wärme in mein Gesicht und die Lautsprecher verbreiten eine tröstliche Meeresatmosphäre: spärliches Klavier, Wellen und Möwen, die ruhige Stimme eines Vorlesers.
    Und während Orson, Pam und Percy auf der Veranda der Hütte inmitten der unendlichen Stille der Wüste zu Eis erstarren, wärme ich mich
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