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Bruderherz

Titel: Bruderherz
Autoren: Blake Crouch
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schimmernde, gefrorene Blutlache. Er hat Frostbeulen vor Kälte. Der Schmerz ist wieder da, doch er reagiert darauf nicht nach Menschenart mit Wimmern. Er ist unbezwingbar, doch sollte er bald aufbrechen, wenn er die Kugel, die Andrew Thomas ihm verpasst hat, überleben will.
    Er steht auf, nimmt die Doppelflinte und geht wankend zurück in die Hütte. Am Ende des Flurs schließt er die Tür zum Gästezimmer auf und tritt sie mit dem Fuß auf.
    Andrew Thomas liegt reglos auf dem Bett.
    »Steh auf«, sagt Luther. Seit letzter Nacht, nachdem er Andrew hier hereingeschleift hatte, hat er den Raum nicht mehr betreten. Andrew setzt sich mühsam auf und lehnt sich gegen die Bretter. Das Atmen fällt ihm schwer und ist sehr schmerzhaft. Der Quilt ist immer noch um seine Schultern gewickelt, er zittert und sein Atem dampft.
    »Komm mit!«, befiehlt Luther.
    Andrew schaut als Besiegter zu ihm auf. »Ich habe einen Schrotschuss gehört. Sind sie alle tot?«
    »Komm mit!«
    Orsons Bruder schaut mit Tränen in den Augen zu Boden. »Töte mich doch einfach.«
    Luther taumelt. Er fällt gegen die Wand, Blut tropft vom Saum seiner Jeans, er versucht zu zielen, doch die Schrotflinte entgleitet seinen Händen und er sackt zu Boden.
     
    Ich hebe die Schrotflinte auf und berühre mit meinem Finger einen der beiden Abzugshähne. Als ich die Mündung des Laufes gegen Luthers Brust drücke, schmecke ich den Wahnsinn, und großer Gott!, er schmeckt süß.
     
    Ich ziehe den sterbenden Luther hinter mir her bis auf die Veranda und binde ihn mit einem Seil auf dem letzten noch freien Schaukelstuhl fest. Dann hebe ich die rote Fliesdecke auf, die ich von Orsons Bett geholt hatte, und wickele sie um Percy Madding und die neben ihm sitzende Frau, vermutlich seine Ehefrau. Ich würde sie gerne begraben, doch der Boden unter dem Schnee ist gefroren. Es gibt nichts, was ich noch tun könnte für den Mann, der mir das Leben gerettet hat.
    Nachdem es mir gelungen ist, Percys Augen zu schließen, gehe ich mühsam ein paar Schritte hinein in den Schnee, drehe mich um und betrachte den Sterbenden und die Toten.
    Die letzten kalten Lichtstrahlen der Sonne werfen ein goldenes Licht auf die Veranda – ein Anblick, der mich bis in alle Ewigkeiten verfolgen wird: Percy Madding, seine Frau, Orson und Luther Kite, jeder in einem Schaukelstuhl, drei tot und einer nicht mehr weit davon entfernt.
    Ich zucke zusammen, als Luther die Stimme erhebt. Er zittert inzwischen und kann nicht verhindern, dass seine Zähne klappern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Nacht überlebt, und überlege, ob er wohl verblutet oder erfriert.
    »Du wirkst entsetzt«, sagt er. »Worüber, Andrew?«
    »Überall dieses Blut, Luther.«
    »Jeder will Blut. Wir sind Krieg. Das ist der Kodex. Krieg und Regression und immer mehr Blut. Willst du mir erzählen, dass dich das nicht anspricht?« Sein schwarzes Haar hängt ihm über das blasse, blutleere Gesicht. Er wartet auf meine Antwort, aber ich habe keine.
    Schließlich gehe ich zu meinem Bruder. Unsere Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt. Orsons Augen sind immer noch offen und der Mund zu einem leichten Grinsen erstarrt. Der Gedanke an das brutale, verachtungswürdige Vergehen an den Maddings und an all den anderen, die er abgeschlachtet hat, bringt mich fast um, und meine Stimme schallt über die Wüste, als ich ihn rasend vor Wut anbrülle: »Ist das Schönheit, Orson? Ist das Wahrheit?«
    Und dann, als hätte ich den Höhepunkt des Fiebers überstanden, fange ich an zu weinen.
    Richtung Osten zur 191 gleite ich unter der purpurroten Unendlichkeit von Wyomings Himmel durch den Schnee und mit dem langsamen Verschwinden der Hütte hinter meinem Rücken lässt auch der Wahnsinn nach. Ich frage mich, ob Luther wohl schon tot ist. Ich stelle mir viele Fragen.
    Die Kufen kratzen auf dem Straßenbelag und ich halte das Schneemobil auf der anderen Straßenseite an. Ich sitze ab und binde die beiden Koffer los, in die ich Kleidung und den Inhalt aus Orsons Schublade gepackt habe. Ich setze mich auf den Standstreifen. Der Highway ist geräumt worden – der einzige Schnee auf der Straße ist vom Wind aufgewirbelter Pulverschnee. Um mich herum herrscht absolute Stille. Ich spüre einen pochenden Schmerz im linken Arm, doch glücklicherweise hatte Percy Unrecht. Es war ein Durchschuss – ich habe das pilzförmige Projektil heute Morgen aus meiner Schulter gezogen.
    Die Sonne ist verschwunden. Uralte Sternbilder und
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