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Bruderherz

Titel: Bruderherz
Autoren: Blake Crouch
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Schnee.
    Ich stellte den Radiator aus und ging in sein Schlafzimmer. In die Fliesdecke gewickelt, die Pistole neben dem Kopfkissen und die Handschellen in der Hosentasche, rollte ich mich zusammen. Ohne den Wind und den brummenden Generator waren die einzigen hörbaren Geräusche mein Atem und mein Herzschlag.
     
    Ich träumte eine Erinnerung: Orson und ich sind zehn Jahre alt. Der Gottesdienst in der Third Creek Baptist Church, einer von Großmutter besuchten Kapelle auf dem Land nördlich von Winston-Salem, ist gerade zu Ende. Da es der letzte Sonntag des Monats ist, strömt die Gemeinde nach draußen an das Büfett. Neben dem kleinen Backsteingebäude, einer Miniaturausgabe reizloser Baptistenkirchen, stehen ein halbes Dutzend gedeckter Tische, auf denen sich die Spezialitäten der ländlichen Küche türmen.
    Schon seit dem späten Vormittag sind drei Grills in Betrieb und der Duft von Hotdogs, Hamburgern und einem Spanferkel legt sich über diesen Augustnachmittag. Nach dem Essen setzen sich Orson und ich unter einen Walnussbaum und beobachten, wie sich eine Ameisenkolonie über die Schale einer Wassermelone hermacht. Es ist klar und heiß und wir schwitzen nicht schlecht in unseren gleichen hellblauen Anzügen mit gelben Fliegen.
    Ich sehe sie auf uns zukommen, wie sie elegant die Familien umrundet, die voll gegessen und schläfrig auf den Decken im Gras sitzen. Sie ist neu in der Gemeinde und ihr knielanges, ärmelloses Kleid ist genauso hellgelb wie die von der Sonne versengten Blätter der Pappeln. Sie bleibt bei der Wassermelonenschale stehen. Ich beobachte, wie eine Ameise über ihren unlackierten großen Zeh läuft.
    Wenn sie spricht, macht sie ein ganz eigenartiges Geräusch, wie wenn eine Messerklinge über einen Schärfstein gezogen wird: »Schlick! Oh, ihr beiden seit ja wohl die hübschesten kleinen Engel, die ich je gesehen habe.«
    Orson und ich schauen auf und blicken in ihr stark gepudertes Gesicht. Ihr lockiges, platinblondes Haar sieht aus wie festgeklebt und sie riecht nach einer billigen Parfümmischung.
    »Ihr Schätze!«, ruft sie aus und grinst, so dass wir ihre falschen Zähne sehen, zwischen denen immer noch Brokkoli hängt. Hier kommt sie – die Frage, die sich offensichtlich jedem aufdrängt, obwohl Orson und ich uns zum Verwechseln ähnlich sehen. »Seid ihr Zwillinge?«
    Großer Gott, wie wir das hassen! Ich öffne den Mund, um zu erklären, dass wir eineiige Zwillinge sind, doch Orsons Blick lässt mich innehalten. Er sieht ihr in die Augen und lässt seine Unterlippe zittern.
    »Jetzt schon«, sagt er.
    »Wie meinst du das, junger Mann?«
    »Unser Drillingsbruder Timmy – er ist vor drei Tagen bei dem Feuer verbrannt.«
    Unter dem Puder läuft ihr Gesicht rot an und sie hält sich eine Hand vor den Mund. »Schlick! Oh, das tut mir aber Leid. Ich wollte nicht…« Sie hockt sich hin, und ich zwicke mir von hinten in die Waden, um nicht zu lachen. »Nun, er weilt jetzt bei Jesus«, sagt sie sanft, »also…«
    »Nein, ihm wurde nicht vergeben«, erklärt Orson. »Er wollte es diesen Sonntag beichten. Glauben Sie, er ist jetzt bei Satan in der Hölle? Ich meine, wenn man nicht gebeichtet hat, kommt man doch in die Hölle, oder? Zumindest hat Pfarrer Rob das gesagt.«
    Sie steht wieder auf. »Darüber sprecht ihr besser mit euren Eltern. Schlick!« Ihr vorgetäuschtes Mitgefühl löst sich in Luft auf und sie blickt hinüber zum angrenzenden Wald. Mit all ihrer Schminke erinnert sie mich an einen traurigen Clown. »Schlick! Nun, es tut mir aufrichtig Leid«, sagt sie, und wir sehen zu, wie sie wieder in der Menge untertaucht. Dann laufen wir hinter den Walnussbaum und lachen, bis uns Tränen über die Wangen laufen.
     
    Ich erwachte und ertappte mich dabei, wie ich senkrecht in Orsons Bett saß und mir selbst die Glock gegen die Schläfe drückte. Inzwischen überraschte mich nichts mehr. Ich schlüpfte unter der Fliesdecke hervor und ging mit der Pistole in der Hand ins Wohnzimmer. Ohne die Wärme des Ölradiators war die Hütte wieder ausgekühlt, also beugte ich mich herab, um ihn wieder einzuschalten, als mir plötzlich das Blut stockte: Ich erinnerte mich an den Traum und an den ungewöhnlichen, nervösen Tick der Frau: schlick, schlick, schlick! Statt wie beabsichtigt, den Radiator einzuschalten, schloss ich das Vorhängeschloss am Riegel der vorderen Tür auf und öffnete sie einen Spaltbreit. Eisige Nachtluft flutete in die Hütte.
    Seit ich gestern am späten Nachmittag
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