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Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Titel: Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Autoren: Jakob Arjouni
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spüren begann, wurde es Zeit zu gehen.
    Behutsam schob ich sie von mir weg. Ihr Gesicht war tränennass.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau de Chavannes. Ich bringe Ihnen Marieke zurück, versprochen.«
    Sie sah mich verzweifelt an. »Wenn er ihr was tut…«
    »Er tut ihr nichts.« Was man eben so sagt. Ich deutete zu dem Glastisch mit den Fotos. »Ihre Tochter ist doch ein selbstbewusstes starkes Fräulein. Und mit sechzehn treibt man sich schon mal rum. Ich bin sicher, die beiden machen nichts anderes, als im Café zu hocken und sich über Underground-Fotografie oder unsere unsoziale Gesellschaft oder so was zu unterhalten. Vielleicht gehen sie zwischendurch mal in den Park und kiffen ein bisschen. Heute Abend ist sie wieder da, und Sie können ihr einen Vortrag darüber halten, was für ausschließlich anständige Sachen Sie mit sechzehn gemacht haben. Ich nehme an, da wird viel von Seilspringen, Poesiealbumpflege und klassischer Klaviermusik die Rede sein…«
    Immerhin, sie musste ein bisschen lächeln.
    »Bis heute Abend, Frau de Chavannes. Und bleiben Sie lieber nicht zu Hause. Gehen Sie spazieren oder shoppen oder ins Fitness-Studio, bewegen Sie sich, lenken Sie sich ab. Vergessen Sie ihr Handy nicht. Ich rufe Sie an, okay?«
    Sie nickte schniefend, dann sagte sie: »Das ist das Bild, das Sie von mir haben, Shoppen und Fitness-Studio, hm?«
    Ich betrachtete sie einen Augenblick. »Um mein Bild von Ihnen machen Sie sich mal keine Sorgen. Das ist schon in Ordnung.«
    Wir gaben uns die Hand, und im nächsten Moment war ich im Flur. Ich wischte mir mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn.
    An die Wand gelehnt stand das Fünf-bis-sechstausend-Euro-Herren-Rennrad. Ich kannte mich mit Rädern einigermaßen aus, seit ich vor vier Jahren das Rauchen aufgegeben hatte. Jedes Mal wenn das Verlangen nach Nikotin kaum mehr auszuhalten gewesen war, hatte ich mich tagsüber oder nachts aufs Rad gesetzt und zwischen Bad Soden und Bad Nauheim hügelauf, hügelab gegen den Nur-ein-kleines-halbes-Zigarettchen-Teufel angekämpft.
    Vielleicht stammte das Rennrad aus finanziell besseren Zeiten. Oder es war eins der Dinge, die Edgar Hasselbaink den Spaß an Frankfurt bringen sollten und die sich die Familie vom Mund absparte. Oder Valerie de Chavannes machte ihrem Geldvermehrer-Vater alle Ehre und hatte mir zur prinzipiell und auch in jeder noch so unpassenden Situation anzustrebenden Kostenminderung Theater vorgespielt.
    Kurz vor der eisenbeschlagenen, mächtigen, sowohl von innen wie außen abweisenden Haustür trat aus der Kellertreppe mit einem Korb Wäsche unterm Arm die Haushälterin in den Flur.
    Sie blieb überrascht stehen. »Ach, Sie sind noch hier?«
    »Ja. Vielen Dank für den Tee. Das nächste Mal würde ich gerne Ihre Fischsuppe probieren, vielleicht im Umkehrschluss…«
    Sie sah mich verständnislos an.
    »Eine Frage: Wie lange arbeiten Sie schon für de Chavannes?«
    Es war ihr nicht recht, dass ich sie fragte, und wenn mich nicht alles täuschte, war ihr auch sonst nichts recht an mir.
    »Über zwanzig Jahre, warum?«
    »Nur so, reine Neugierde. Auf Wiedersehen, schönen Tag noch.«
    Sie murmelte irgendwas. Ob sie meinen Besuch Georges und Bernadette de Chavannes melden würde? Hier war schon wieder so einer da…
    Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, blieb ich einen Moment im Vorgarten stehen und atmete die klare Herbstluft ein. Bis auf ein älteres, sich langsam über den Bürgersteig näherndes Paar war die Zeppelinallee wie ausgestorben. Kein Auto fuhr, keine Kinder lärmten, kein Geschirrklappern oder Rasenmäherbrummen. Ganz leise hörte man das Rauschen der Stadt wie von weit her, dabei war man fast mitten drin.
    Der Mann und die Frau trugen beide jägergrüne Filzhüte, die Frau hatte einen Pelz um den Hals, der Mann einen Gehstock mit golden glänzendem Knauf in Form eines Tierkopfs. Das Klacken des Gehstocks tönte durch die Diplomatenviertel-Stille.
    Wollen wir doch mal sehen, dachte ich und winkte den beiden lächelnd zu: »Guten Morgen!«
    Sie betrachteten mich im Weitergehen, als sei ich ein sprechender Baum oder so was und als wären sprechende Bäume oder so was äußerst unfein.
    Ich nahm mein Fahrrad, schob es aus dem Vorgarten und fuhr los Richtung Bockenheimer Landstraße. Als ich an dem älteren Paar vorbeikam, rief ich: »Ihr schlechterzogenen Schweine!« Und wieder schauten sie, ohne eine Miene zu verziehen. Ein sprechender Baum auf einem Fahrrad – ja, wo sind wir denn!
    Ich
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