Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Autoren: Rosa Luxemburg
Vom Netzwerk:
da der Himmel ganz grau war. Ich lief zum Fenster und blieb wie gebannt stehen. Auf dem völlig grauen Einerlei des Himmels türmte sich im Osten eine große Wolke von so überirdisch schöner rosa Farbe, so allein für sich losgelöst von allem, daß sie wie ein Lächeln aussah, wie ein Gruß aus unbekannter Ferne. Ich atmete wie befreit auf und streckte unwillkürlich beide Hände dem zauberhaften Bild entgegen. Wenn es solche Farben, solche Formen gibt, dann ist das Leben schön und lebenswert, nicht wahr? Ich sog mich mit den Blicken fest an das leuchtende Bild und verschlang jeden rosigen Strahl aus ihm, bis ich plötzlich selbst über mich auflachen mußte. Herr Gott, der Himmel und die Wolken und die ganze Schönheit des Lebens bleiben doch nicht in Wronke, daß ich von ihnen Abschied zu nehmen brauchte; nein, sie gehen mit mir fort und bleiben mit mir, wo ich auch bin und so lange ich lebe.
    Bald berichte ich Ihnen von Breslau, besuchen Sie mich dort, sobald Sie können. Grüßen Sie herzlich Karl.
    Ich umarme Sie vielmals. Auf Wiedersehen in meinem neunten Gefängnis.
    Ihre treue
    Rosa.
     

AUS BRESLAU
    Breslau, den 2. 8. 1917.
     
    Meine liebe Sonitschka, Ihr Brief, den ich am 28. erhielt, war die erste Nachricht, die mich hier von der Außenwelt erreichte, und Sie können sich leicht denken, wie sehr ich mich darüber freute. Meine Übersiedlung nehmen Sie, in Ihrer liebevollen Sorge um mich, entschieden zu tragisch ... Ich nehme, wie Sie wissen, alle Wendungen des Schicksals mit dem nötigen, heiteren Gleichmut hin. Ich habe mich schon hier gut eingelebt, heute sind meine Kisten mit Büchern aus Wronke angekommen, bald werden also meine zwei Zellen hier mit den Büchern und Bildchen und dem bescheidenen Zierrat, den ich sonst mit herumschleppe, wieder so anheimelnd und behaglich aussehen, wie in Wronke, und ich werde mit doppelter Lust an die Arbeit gehen. Was mir hier fehlt, ist natürlich die relative Bewegungsfreiheit, die ich dort hatte, wo die Festung den ganzen Tag offen stand, während ich hier einfach eingesperrt bin, dann die herrliche Luft, der Garten und vor allem die Vögel! Sie haben keine Ahnung, wie ich an dieser kleinen Gesellschaft hänge. Aber das alles kann man natürlich entbehren, und bald werde ich vergessen, daß ich es je besser hatte als hier. Die ganze Situation hier ist so ziemlich genau wie in der Barnimstraße, nur der hübsche, grüne Lazaretthof fehlt, in dem ich doch jeden Tag irgendeine kleine botanische oder zoologische Entdeckung machen konnte. Hier gibt es auf dem großen,gepflasterten Wirtschaftshof, der mir zum Spaziergang dient, nichts »zu entdecken«. Und ich hefte krampfhaft meine Blicke beim Wandeln auf die grauen Pflastersteine, um dem Anblick der im Hofe beschäftigten Gefangenen zu entgehen, die mir stets in ihrer diffamierenden Tracht eine Pein sind und unter denen sich immer ein paar finden, bei denen Alter, Geschlecht, individuelle Züge unter dem Stempel der tiefsten menschlichen Degradation verwischt sind, ja aber gerade durch einen schmerzlichen Magnetismus immer wieder meine Blicke anziehen. Freilich gibt es auch überall einzelne Gestalten, denen sogar die Gefängnistracht nichts anhaben kann und die ein Malerauge erfreuen würden. So entdeckte ich schon hier eine junge Arbeiterin im Hofe, deren schlanke, knappe Formen, sowie der tuchumwundene Kopf mit dem strengen Profil, direkt eine Millet-Gestalt abgäbe; es ist ein Genuß zu sehen, mit welchem Adel der Bewegungen sie Lasten schleppt, und das magere Gesicht mit der straff anliegenden Haut und dem gleichmäßig kreideweißen Teint erinnert an eine tragische Pierrotmaske. Aber gewitzigt durch traurige Erfahrungen suche ich solchen vielversprechenden Erscheinungen weit aus dem Wege zu gehen. In der Barnimstraße hatte ich nämlich auch eine Gefangene entdeckt von wahrhaft königlicher Gestalt und Haltung und dachte mir ein entsprechendes »Interieur« dazu. Dann kam sie als Kalfaktrice auf meine Station, und es zeigte sich nach zwei Tagen, daß unter dieser schönen Maske ein solches Maß von Dummheit und niedriger Gesinnung steckte, daß ich fortan die Blicke immer abwendete, wenn sie mir in den Weg lief. Ich dachte mir damals, daß die Venus von Milo am Ende nur deshalb ihre Reputation als schönste der Frauen durch Jahrhunderte hat bewahren können, weil sie schweigt. Würde sie den Mund auftun, wäre vielleicht der ganze Charme zum Teufel.
    Mein vis-à-vis ist das Männergefängnis, der übliche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher