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Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Autoren: Rosa Luxemburg
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den ganzen Hof; das sah so geisterhaft aus, wie der Silberflaum herumflatterte! Die Silberpappel blüht später als alle anderen Kätzchenträger, und dank dieser üppigen Samenausstreuung verbreitet sie sich sehr weit, ihre kleinen Schößlinge sprießen wie Unkraut aus allen Ritzen an der Mauer und zwischen Steinen.
    Dann wurde ich um 6, wie immer, wieder eingesperrt, saß traurig mit einem dumpfen Druck im Kopf am Fenster, denn es war schwül, und blickte hinauf, wo unter weißen, flockigen Wolken auf pastellblauem Grund in schwindelnder Höhe die Schwalben munter herumschossen und mit ihren spitzen Flügeln die Luft wie mit Scherchen zu zerschneiden schienen. Bald verdunkelte sich aber der Himmel, alles verstummte, und es gab ein Gewitter mit heftigem Platzregen und zwei krachenden Donnerschlägen, bei denen alles erbebte. Daraus folgte ein Bild, das mir unvergeßlich bleibt. Das Gewitter hatte sich bald weiter verzogen, der Himmel wurde dick einfarbig grau, eine stumpfe, fahle, gespenstische Dämmerung senkte sich plötzlich auf die Erde, es war, wie wenn dichte graue Schleier herabhingen; der Regen rieselte ganz leise und gleichmäßig auf die Blätter, das Wetterleuchten flammte einmal über das andere purpurrot in das bleierne Grau auf, und ein fernes Grollen des Donners rollte immer wieder wie letzte schwache Wellen einer Brandung heran. Und mitten in all dieser gespenstischen Stimmung schlug plötzlich vor meinem Fenster auf dem Ahorn die Nachtigall! Mitten in all dem Regen, im Wetterleuchten, im Donner schmetterte sie wie eine helle Glocke, sie sang wie berauscht, wie besessen, wollte den Donner übertönen, die Dämmerung erhellen – ich habe nie so Schönes gehört. Ihr Gesang wirkte auf dem Hintergrund des abwechselnd bleiernen und purpurnen Himmels wie leuchtendes Silbergeflimmer. Das war so geheimnisvoll, so unbegreiflich schön, und ich wiederholte unwillkürlich den letzten Vers jenes Goetheschen Gedichts: »O wärst Du da!« ...
    Stets Ihre
    Rosa.

Wronke, den 1. 6. 1917.
     
    ... die Orchideen überhaupt kenne ich gut; in dem wundervollen Gewächshaus in Frankfurt a. M., wo eine ganze Abteilung mit ihnen angefüllt ist, habe ich sie damals nach meinem Prozeß, wo ich das Jahr gekriegt habe, mehrere Tage fleißig studiert. Ich finde, sie haben in ihrer leichten Grazie und den phantastischen, unnatürlichen Formen etwas so Raffiniertes, Dekadentes. Sie wirken auf mich, wie die zierlichen gepuderten Marquisen des Rokoko. Ich bewundere sie mit einem inneren Widerstreben und einer gewissen Unruhe, wie meiner Natur überhaupt alles Dekadente und Perverse zuwider ist. Viel mehr Freude habe ich z. B. an dem einfachen Löwenzahn, der so viel Sonne in seiner Farbe hat und so ganz wie ich dem Sonnenschein sich voll und dankbar öffnet, beim geringsten Schatten aber wieder scheu verschließt.
    Was für Abende jetzt und was für Nächte! Gestern lag ein unbeschreiblicher Zauber auf allem. Der Himmel war spät nach Sonnenuntergang von leuchtender Opalfarbe mit Streifen von unbestimmter Farbe verschmiert, ganz wie eine große Palette, auf der der Maler nach fleißiger Tagesarbeit seine Pinsel mit breiter Geste abgewischt hat, um zur Ruhe zu gehen. In der Luft lag ein bißchen Gewitterschwüle, eine leichte herzbeklemmendeSpannung; die Sträucher standen völlig regungslos, die Nachtigall ließ sich nicht hören, aber der unermüdliche »Gartenspötter« mit dem schwarzen Köpfchen hupfte noch in den Ästen herum und rief schrill. Alles schien auf etwas zu warten. Ich stand am Fenster und wartete gleichfalls – weiß Gott auf was. Nach »Einschluß« um sechs habe ich ja zwischen Himmel und Erde auf nichts mehr zu warten....

Wronke, den 20. Juli 1917.
     
    Sonitschka, mein Liebling, da mein Ableben hier sich doch länger hinzieht, als ich ursprünglich annahm, sollen Sie noch einen letzten Gruß aus Wronke kriegen. Wie konnten Sie denken, ich würde Ihnen keine Briefe mehr schreiben! In meiner Gesinnung Ihnen gegenüber hat sich nichts geändert, konnte sich nichts ändern. Ich schrieb nicht, weil ich Sie seit der Abreise von Ebenhausen im Trubel von tausenderlei Dingen wußte, zum Teil wohl auch, weil ich vorübergehend nicht in Stimmung war.
    Daß es mit mir nach Breslau geht, wissen Sie wohl schon. Hier habe ich heute früh von meinem Gärtlein Abschied genommen. Das Wetter ist grau, stürmisch und regnerisch, am Himmel jagen zerfetzte Wolken, und doch habe ich meinen üblichen Frühspaziergang heute in
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