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Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Autoren: Rosa Luxemburg
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düstere rote Backsteinbau. Aber quer über die Mauer sehe ich die grünen Baumwipfel irgendeiner Anlage; eine große Schwarzpappel, die bei stärkerem Luftzug vernehmlich rauscht und eine Reihe viel hellerer Edeleschen, die mit gelben Schotenbündeln behängt sind. Die Fenster geben auf Nordwest Aussicht, so daß ich manchmal schöne Abendwolken sehe, und Sie wissen, daß mich eine solche rosige Wolke allein entzücken und für alles entschädigen kann. In diesem Augenblicke, 8 Uhr abends (in Wirklichkeit also 7), ist die Sonne kaum hinter den Giebeln des Männergefängnisses gesunken, sie scheint noch grell durch die Glasbodenluke im Dache und der ganze Himmel leuchtet goldig. Ich fühle mich sehr wohl und muß – ich weiß selbst nicht warum – das Ave Maria von Gounod leise vor mich hinsingen (Sie kennen es wohl).
    Vielen Dank für die abgeschriebenen Goethesachen. »Die berechtigten Männer« sind in der Tat schön, obschon sie mir von selbst nicht aufgefallen wären; man läßt sich ja auch manchmal die Schönheit eines Dinges suggerieren. Ich möchte Sie noch bitten, mir gelegentlich »Anakreons Grab« abzuschreiben. Kennen Sie es gut? Ich habe es natürlich erst durch Hugo Wolffsche Musik richtig verstanden; im Lied macht es geradezu einen architektonischen Eindruck; man meint einen griechischen Tempel vor sich zu sehen.
    Jetzt eben – ich habe eine kleine Pause gemacht, um den Himmel zu beobachten – ist die Sonne schon viel tiefer hinter dem Gebäude versunken und hoch oben schweben – weiß Gott woher – lautlos zusammengelaufene Myriaden kleiner Wölkchen, die am Rande silbrig leuchten, in der Mitte zart grau sind und alle ihre zerfetzten Umrisse nach dem Norden steuern. Es liegtso viel Unbekümmertheit und kühles Lächeln in diesem Wolkenflug, daß ich mitlächeln muß, wie ich immer den Rhythmus des umgebenden Lebens mitmachen muß. Wie könnte man bei solchem Himmel »bös« oder kleinlich sein? Vergessen Sie bloß nie, um sich zu blicken, dann werden Sie immer wieder »gut« sein.
    Daß Karl ein Buch speziell über den Vogelgesang will, wundert mich ein wenig. Für mich ist die Stimme der Vögel untrennbar von ihrem ganzen Habitus und ihrem Leben, nur das Ganze interessiert mich, nicht irgendein losgerissenes Detail. Geben Sie ihm ein gutes Buch über Tiergeographie, das wird ihm sicher viel Anregung geben. Hoffentlich kommen Sie bald zu Besuch zu mir. Sobald Sie Erlaubnis haben, telegraphieren Sie mir.
    Ich umarme Sie vielmals
    Ihre Rosa.
    Gott, Gnade mir. 8 Seiten sinds geworden, nun, für diesmal mags hingehen. Dank für die Bücher.

Mitte November 1917.
     
    Meine geliebte Sonitschka,
    ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, Ihnen endlich wieder diesen Brief zu schicken, und greife mit Sehnsucht zur Feder. Wie lange mußte ich jetzt die liebe Gewohnheit entbehren, mit Ihnen wenigstens auf dem Papier zu plaudern! Aber es ging nicht, die wenigen Briefe, die ich schreiben durfte, mußte ich für Hans D. aufsparen, der ja darauf wartete. Nun ist es damit vorbei, meine zwei letzten Briefe waren schon an einen Toten geschrieben, einen habe ich schon zurückgekriegt. Unfaßbar bleibt mir die Tatsache immer noch. Doch reden wir lieber nicht darüber, ich mache solche Sachen am liebsten mit mir allein ab, und wenn man mich »schonend« auf die schlimme Nachricht vorzubereiten und durch eigenes Wehklagen »trösten« will, wie N. es tat, so irritiert mich das unsagbar. Daß mich meine nächsten Freunde immer noch so wenig kennen und so unterschätzen, daß sie nicht begreifen: das beste und feinste in solchen Fällen ist, mir schleunigst aber kurz und einfach die zwei Worte zu sagen: er ist tot – – – das kränkt mich, doch Schluß damit.
    .... Wie schade um die Monate und Jahre, die jetzt vergehen und in denen wir zusammen so viel schöne Stunden verleben könnten, trotz all dem Schrecklichen, was in der Welt vorgeht. Wissen Sie, Sonitschka, je länger das dauert und je mehr das Niederträchtige und Ungeheuerliche, das jeden Tag passiert, alle Grenzen undMaße übersteigt, um so ruhiger und fester werde ich, wie man gegenüber einem Element, einem Buran, einer Wasserflut, einer Sonnenfinsternis, nicht sittliche Maßstäbe anwenden kann, sondern sie nur als etwas Gegebenes, als Gegenstand der Forschung und Erkenntnis betrachten muß.
    Dies sind offenbar die objektiv einzig möglichen Wege der Geschichte und man muß ihr folgen, ohne sich an der Hauptrichtung beirren zu lassen. Ich habe das
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