Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Autoren: Rosa Luxemburg
Vom Netzwerk:
Hier kann ich leider nur von weitem aus meinem Fenster das Grünen der Bäume beobachten, deren Spitzen ich über der Mauer sehe; ich suche meist nach dem Habitus und dem Farbenton die Baumarten zu erraten und, wie es scheint, meist richtig. Neulich wurde hier ein gefundener, abgebrochener Ast ins Haus gebracht, und hat durch sein bizarres Aussehen allgemeine Aufregung hervorgerufen; jedermann frug, was das sei. Es war eine Rüster (Ulme); erinnern Sie sich noch, wie ich sie Ihnen zeigte in der Straße in meinem Südende, vollbeladen mit duftigen Paketen der fahl-rosig-grünlichen Früchtchen; es war auch im Mai, und Sie waren ganz hingerissen von dem phantastischen Anblick. Hier wohnen die Leute jahrzehntelang in der Straße, die mit Rüstern bepflanzt ist, und haben noch nicht »bemerkt«, wie eine blühende Rüster aussieht.... Und derselbe Stumpfsinn ist ja allgemein Tieren gegenüber. Die meisten Städter sind doch wirklich rohe Barbaren, im Grunde genommen....
    Bei mir nimmt, umgekehrt, das innere Verwachsen mit der organischen Natur – en defrit de l'humanité – beinahe krankhafte Formen an, was wohl mit meinem Nervenzustand zusammenhängt. Da unten hat ein Paar Haubenlerchen ein Junges ausgebrütet – die übrigen drei sind wohl kaputt gegangen. Und dieses eine kann schon sehr gut laufen – Sie haben vielleicht bemerkt, wie drollig die Haubenlerchen laufen, mit kleinen behenden Schrittchen, trippelnd, wie der Spatz mit beiden Beinchen hüpfend, es kann auch schon gut fliegen, findet wohl aber noch nicht selbst genug Nahrung: Insekten, Räupchen usw. – zumal bei diesen kalten Tagen. So erscheint es jeden Abend unten im Hof vor meinem Fenster und piept ganz laut, schrill und kläglich, worauf auch gleich die beiden Alten erscheinen und mit ängstlichem, bekümmerten»Huid–huid« halblaut Antwort geben, dann schnell herumlaufen, verzweifelt suchend, um noch in der Dämmerung und Kälte etwas Eßbares zu finden, und dann kommen sie an den klagenden Balg heran und stecken ihm das Gefundene in den Schnabel. Das wiederholt sich jetzt jeden Abend um ½9 Uhr, und wenn dies schrille, klagende Piepen unter meinem Fenster beginnt, und ich die Unruhe und Sorge der beiden kleinen Eltern sehe, bekomme ich buchstäblich einen Herzkrampf. Dabei kann ich nichts helfen, denn die Haubenlerchen sind sehr scheu, und wenn man ihnen Brot hinwirft, fliegen sie weg, nicht so wie die Tauben und Spatzen, die mir schon wie Hunde nachlaufen. Ich sage mir vergeblich, daß es lächerlich ist, daß ich ja nicht für alle hungrigen Haubenlerchen der Welt verantwortlich bin und nicht um alle geschlagenen Büffel – wie die, die hier täglich mit Säcken in den Hof kommen – weinen kann. Das hilft mir nichts und ich bin förmlich krank, wenn ich solches höre und sehe. Und wenn der Star, der bis zum Überdruß den ganzen, lieben Tag, irgendwo in der Nähe sein aufgeregtes Geschwätz wiederholt, wenn er für einige Tage verstummt, habe ich wieder keine Ruhe, daß ihm was Böses zugestoßen sein mag und warte gequält, daß er seinen Unsinn nur weiter pfeift, damit ich weiß, daß es ihm wohlergeht. So bin ich aus meiner Zelle nach allen Seiten durch unmittelbare, feine Fäden an tausend kleine und große Kreaturen geknüpft, und reagiere auf alles mit Unruhe, Schmerz, Selbstvorwürfen....
Sie
gehören auch zu all diesen Vögeln und Kreaturen, um die ich von weitem innerlich vibriere. Ich fühle, wie Sie darunter leiden, daß Jahre
unwiederbringlich
vergehen, ohne daß man »lebt«. Aber Geduld und Mut! Wir werden noch leben und Großes erleben. Jetzt sehen wir vorerst, wie eine ganze alte Welt versinkt, jeden Tag ein Stück, ein neuer Abrutsch, ein neuerRiesensturz.... Und das Komischste ist, daß die meisten es gar nicht merken und glauben, noch auf festem Boden zu wandeln....
    Sonitschka, haben Sie vielleicht oder könnten Sie beschaffen den Gil Blas und den hinkenden Teufel? Ich kenne Lesage gar nicht und wollte ihn schon längst lesen. Kennen Sie ihn? Schlimmstenfalls kaufe ich mir ihn in der Reclam-Ausgabe.
    Ich umarme Sie herzlich
    Ihre Rosa.
    Schreiben Sie bald, wie es Karl geht.
    Vielleicht hat Pfemfert den »Flachsacker« von Stijn Streuvels, das ist wieder ein Flame; erschienen im Inselverlag, soll sehr gut sein.

Breslau, den 18. 10. 1918.
     
    Liebste Sonitschka, ich schrieb Ihnen vorgestern. Bis heute habe ich noch keinen Bescheid auf mein Telegramm an den Reichskanzler, es kann vielleicht noch einige Tage dauern.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher