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Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Autoren: Rosa Luxemburg
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daß ich die Eigentümlichkeit besitze, dann zu verstummen. Buchstäblich, Sonitschka, ich kann dann kein Wort über die Lippen bringen. Zum Beispiel in diesen letzten Tagen, ich war schon so heiter und selig, freute mich der Sonne, da erfaßte mich plötzlich am Montag ein eisiger Sturmwind, und auf einmal wandelte sich meine strahlende Heiterkeit in tiefsten Jammer. Und wenn meiner Seele Glück in Person plötzlich vor mir stände, ich brächte keinen Ton über die Lippen und könnte höchstens mit stummem Blick meine Verzweiflung klagen. Freilich komme ich selten genug in die Versuchung zu reden, ich höre ja wochenlang meine eigene Stimme nicht, dies ist übrigens der Grund, weshalb ich den heroischen Entschluß gefaßt habe, meine Mimi doch nicht herkommen zu lassen. Das Tierchen ist gewöhnt an Munterkeit und Leben, sie hat es gern, wenn ich singe, lache und mit ihr durch alle Zimmer Haschen spiele, sie würde mir ja hier trübsinnig werden. Ich lasse sie also bei Mathilde. Mathilde kommt zu mir in den nächsten Tagen und ich hoffe mich dann wieder aufzurappeln. Vielleicht wird Pfingsten auch für mich »das liebliche Fest« sein. Sonitschka, seien Sie mir heiter und ruhig, alles wird doch noch gut werden, glauben Sie mir, grüßen Sie herzlichst Karl, ich umarme Sie vielmals
    Ihre Rosa.
    Vielen Dank für das schöne Bildchen.

Wronke, Ende Mai 1917.
     
    Sonjuscha, wissen Sie, wo ich bin, wo ich Ihnen diesen Brief schreibe? Im Garten! Ich habe mir ein kleines Tischchen herausgeschleppt und sitze nun versteckt zwischen grünen Sträuchern. Rechts von mir die gelbe Zierjohannisbeere, die nach Gewürznelken duftet, links ein Ligusterstrauch, über mir reichen ein Spitzahorn und ein junger, schlanker Kastanienbaum einander ihre breiten, grünen Hände, und vor mir rauscht langsam mit ihren weißen Blättern die große, ernste und milde Silberpappel. Auf dem Papier, auf dem ich schreibe, tanzen leichte Schatten der Blätter mit hellen Lichtkringeln der Sonne, und von dem regenfeuchten Laub fällt mir auf Gesicht und Hände ab und zu ein Tropfen. In der Gefängniskirche ist Gottesdienst; dumpfes Orgelspiel dringt undeutlich heraus, gedeckt vom Rauschen der Bäume und dem hellen Chor der Vögel, die heute alle munter sind; aus der Ferne ruft der Kuckuck. Wie ist es schön, wie bin ich glücklich, man spürt schon beinahe die Johannisstimmung – die volle, üppige Reife des Sommers und den Lebensrausch; kennen Sie die Szene in den Wagnerschen Meistersingern, die Volksszene, wo eine bunte Menge in die Hände klatscht: Johannistag! Johannistag! und alles plötzlich anfängt, einen Biedermeierwalzer zu tanzen? In diese Stimmung könnte man in diesen Tagen kommen. – Was habe ich alles gestern erlebt!! Das muß ich Ihnen erzählen. Vormittag fand ich im Baderaum am Fenster ein großes Pfauenauge. Es war wohl schon ein paar Tagedrin und hatte sich an der harten Scheibe zu Tode mattgeflattert; es gab nur noch schwache Lebenszeichen mit den Flügeln. Als ich es bemerkte, zog ich mich zitternd vor Ungeduld wieder an, kletterte aufs Fenster und nahm es behutsam in die Hände, – es wehrte sich nicht mehr, und ich dachte, es sei wohl schon tot. Ich setzte es bei mir auf das Gesims vor dem Fenster, damit es zu sich käme, und da regte sich noch schwach das Lebensflämmchen, aber es blieb still sitzen; dann legte ich ihm vor die Fühler ein paar offene Blüten, damit es was zu essen habe; gerade sang vor dem Fenster hell und übermütig der Gartenspötter, daß es hallte; ich sagte unwillkürlich laut: hör zu, wie das Vöglein lustig singt, da muß dir doch auch das bißchen Leben zurückkehren! Ich mußte selbst lachen über diese Ansprache an das halbtote Pfauenauge und dachte mir: verlorene Worte! Aber nein – nach einer halben Stunde erholte sich das Tierchen, rutschte erst ein bißchen hin und her und flog endlich langsam fort! Wie freute ich mich über diese Rettung! Das war ein Erlebnis.
    Nachmittags ging ich natürlich wieder in den Garten, in dem ich von 8 Uhr früh bis 12 bin (wo man mich zum Essen ruft) und wieder von 3 bis 6. Ich wartete auf die Sonne, ich hatte das Empfinden, sie müsse, sie
müsse
sich noch gestern zeigen. Aber sie zeigte sich nicht, und ich wurde traurig. Ich ging im Garten umher und sah bei dem leichten Winde etwas Merkwürdiges: an der Silberpappel zerflatterten die überreifen Kätzchen und ihr Samenflaum flog rings umher, füllte die ganze Luft wie mit Schneeflocken, bedeckte die Erde und
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