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Bragg 04 - Dunkles Verlangen

Bragg 04 - Dunkles Verlangen

Titel: Bragg 04 - Dunkles Verlangen
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die übrigen Freunde ihrer Mutter – Schauspieler, Musiker, Theaterleute – ließen sie in ihrem Kummer nicht allein, sie taten vielmehr alles, um dem kleinen Mädchen in ihrer Not und ihrem Kummer Trost und Beistand zu leisten. Robert besetzte Jane schon bald in ihrer ersten Bühnenrolle, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. Und so feierte sie ihr Debüt in dem Stück The Physician in der Rolle eines kleinen Jungen. Allerdings hatte sie bloß ganze fünf Zeilen zu sprechen. Trotzdem: In der Rolle eines anderen Menschen auf die Bühne zu treten, vor tausend Menschen in die Haut eines anderen zu schlüpfen, war das Großartigste, was sie bis dahin erlebt hatte.
    Und als sie am Ende der Vorstellung zusammen mit den anderen Schauspielern auf die Bühne trat, um sich zu verneigen, brandete ihr tosender Applaus entgegen. Jane stand zwischen einer Schauspielerin und einem Schauspieler und verbeugte sich immer wieder vor dem tobenden Haus. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, und ihr Herz wurde unendlich weit.
    Unten im Parkett rief jemand: »Das ist doch die Tochter des Engels! Sandras Mädchen!«
    Dann schob die Schauspielerin sie nach vorne. »Du musst jetzt allein auf die Bühne hinaus. Die Leute jubeln dir zu«, rief die Frau. Und so stand Jane plötzlich alleine auf der Bühne und verneigte sich. Das Publikum feierte das kleine blonde Mädchen enthusiastisch.
    »Engel, Engel!«, schallte es ihr entgegen, während die Zuschauer zugleich begeistert applaudierten. Schon bald war sie unter dem Namen »Sandras Engel« der erklärte Liebling des Londoner Theaterpublikums.
    »Jane, hör auf zu träumen – wir sind gleich da!«
    Matildas schrille Stimme riss Jane unsanft aus ihren sentimentalen Erinnerungen. Sie wischte sich die Tränen ab – Tränen der Freude und der Trauer. In einiger Entfernung erhob sich das dunkelgraue Gemäuer des neogotischen Herrensitzes. Jane hatte nichts anderes erwartet als ein dunkles, düsteres und bedrohliches Haus. Sie war daher nicht enttäuscht. Allerdings hatte sie entschieden mehr Efeu erwartet. Und tatsächlich wollten die blassroten Kletterrosen und die sorgfältig gepflegten Rasenflächen nicht recht zu dem düsteren Gebäude passen. Als sie das gewaltige Herrenhaus von Dragmore mit seinen Türmchen näher in Augenschein nahm, bemerkte sie, dass von dem Südflügel des Gebäudes nur mehr eine verkohlte Ruine übrig war. Es sah ganz so aus, als ob sich dieser Teil des Hauses schon seit Jahren in einem verwahrlosten Zustand befand. Ein der Missachtung preisgegebenes Relikt der Vergangenheit – oder doch eher ein makabres Stück Erinnerung? Jane erschauderte. Als die Kutsche in das Rondell vor dem Herrenhaus einbog, fing ihr Herz ungestüm an zu schlagen. Und dann sah sie ihn: Er stand halb abgewandt unten im Eingang des alten Wachturms – ein groß gewachsener und athletischer, sehr abweisender Mann. Dann wandte er den Kopf in ihre Richtung. Und Jane glaubte unwillkürlich, den wieder auferstandenen Geist eines seiner Vorfahren vor sich zu sehen, einen unbezwingbaren heidnischen Burgherrn aus unvordenklichen Zeiten.
    Der Herr der Finsternis.
    Oh, wie gut dieser Name zu ihm passte.
    Es hieß, dass er seine eigene Frau umgebracht hatte.
     

Kapitel 3
     
    Das konnte nur das Mädchen mit der Tante sein. Er war alles andere als erfreut.
    Der Earl wollte gerade ins Haus gehen, blieb jedoch stehen, als er eine Kutsche näher kommen hörte. Auch die Hunde waren außer Rand und Band. Er war äußerst ungehalten. Also ging er quer über den Schlosshof, trat ins Haus. Der Butler stand bereits an der Tür. »Führe die Leute herein«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
    »In welchen Raum soll ich die Damen führen, Euer Lordschaft?«, fragte Thomas höflich. Er war schon über fünfzig und hatte nur noch ein paar dünne weiße Haare auf dem Kopf. Wie stets blieb sein Gesicht auch jetzt völlig ausdruckslos. Der Earl zweifelte keine Sekunde: Selbst wenn er eines Morgens in voller Kriegsbemalung mitsamt Lendenschurz und Mokassins zum Frühstück erscheinen sollte, würde Thomas keine Miene verziehen. Insgeheim konnte er ihn sehr gut leiden.
    »Woher soll ich das wissen? Führ die Leute meinetwegen in den Stall.« Ohne auch nur einen Gedanken an den Dung zu verschwenden, der an seinen Absätzen hing, durchquerte der Earl das Foyer, das einen Marmorboden hatte. Er hatte bereits die Mahagonitreppe erreicht.
    »Soll ich den Damen Tee und Gebäck anbieten?«, rief Thomas, der unten
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