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Bostjans Flug - Roman

Bostjans Flug - Roman

Titel: Bostjans Flug - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Körper nur gespürt, wenn der Vater ihm den Kopf zwischen seine Knie klemmte und es ihm gab, jedesmal wenn die Rute ihre Psalmen auf seinen Hintern pfiff und seinen Schenkeln irgendwelche Sinnsprüche einbleute. Wozu wurde er geboren? Um jetzt, wo er schon einmal auf der Welt war, Schmerzen zu empfangen und auszuteilen, selbst zu ertragen, anderen aufzuerlegen? Es hatte sich in ihm zu setzen begonnen und hätte sich gesetzt, wäre nicht sie da gewesen, in deren Nähe ihm die Wonneschauer über den Körper laufen und durch die alle Regeln und Normen über den Haufen geworfen wurden. Was ihm passiert, paßt ihm, was ihm paßt, passiert ihm. Nebeneinander gingen sie, gemächlich, jeder auf seiner Seite, bis die Straße enger wurde und sie sich auf Reichweite nahe kamen. Mit dem Hören seines und dem Aussprechen ihres Namens machte er sich Mut, berührte er sie, berührte ihre Haut, und es erwärmte ihn von den Füßen bis zur Stirn, in den Fingern wurde es ihm bei der Berührung heiß. Nicht die zwei waren schuld, die Straße war es. An der ausersehenen Stelle, Boštjan könnte schwören, daß sie seit Ewigkeit für ihn vorbereitet war, von der Großmutter gekennzeichnet und von der Mutter vorbestimmt, an der Stelle, wo sich die Ränder annäherten und die Straße ungewöhnlich schmal war, heute zurückgeschnitten und merklich verengt, stießen sie wegen des unwahrscheinlich engen Straßenhalses aufeinander, fanden sich eng nebeneinander. Es wetterleuchtete zwischen ihnen, eine flüssige Substanz nahm sie auf, setzte ein Strömen von Hand zu Hand in Gang und von den Händen über den ganzen Körper. Es wurde ihm heiß, es fiel ab, fror ab, in ein und dem
selben Moment hat er das Gefühl, daß ihm die Finger an den Händen fehlen, taubes, totes Fleisch sind die Fingerspitzen, die Hand ein trockener Stumpf, und als er die Wange betastet, ertastet er sie nicht. Auch die Füße spürt er an den Beinen nicht, aber es machen ihm die tauben Füße nichts aus, braucht er doch von nun an keine Beine mehr. Um die Hände ist es schade, um die Finger und die Ballen, sie wird er vermissen. Aber was ist das schon, wenn ihn die unausweichlich nahende Sünde voll erfaßt hat, ihn zur Gänze umhüllt, und wenn in ihm die Funken fliegen, daß sich Gott erbarme.
    Sie vereinbarten Tag und Stunde. Sie werde schon einen Vorwand finden, sagte sie nach kurzem Zögern, und verdammt, wenn es ihr nicht gelänge, dem Vater zu entkommen und sich von daheim loszureißen, setzte Boštjan überflüssigerweise hinzu. Treffen würden sie sich in der Mühle, am nächsten Samstag nach der Arbeit, zu Beginn des Feierabends. Dazu erzogen, niemandem nachzuweinen, weinte Boštjan niemandem nach. Aber als er nach der Stunde von Lina heimging, wurde auch diese Regel ungültig, fiel auch dieses kleine unterhöhlte Bollwerk in sich zusammen. Es war jedoch kein verspätetes, nachbesserndes Ersatzklagen, es war das Ende der Trauer, der Anfang der Wärme. Boštjan war zur Welt gekommen unter die Lebenden. Bereits in der Nähe der Mühle verschwanden die Empfindungsstörungen aus den Fußsohlen, kehrte das Fühlen wieder zurück, belebten sich die Finger, waren wieder empfindsam. Als er seinen Schritt an der Mühle vorbeilenkt, starrt er zu ihr hin und fixiert sie an ihrem Platz, vertäut sie auf ihren Fundamenten, beschwert sie mit Gewichten, macht sie für alle Fälle fest, damit sie sich nicht in Luft auflöst und das Hochwasser sie nicht vor dem Ereignis wegschwemmt, daß sie nicht
durch etwaige Donnerschläge niedergerissen wird, wenn sich im Wetterleuchten die Junigötter prügeln und durch irgendeine Prozession gegen sie aufgehetzt werden, oder damit sie nicht über Nacht von jemandem in einen anderen Graben versetzt wird. Kein Zweifel, es geht um die Mühle, sie ist in Gefahr. Boštjan schreitet an ihr entlang und macht sie, auf gleicher Höhe mit ihr, an Ort und Stelle fest, verankert sie und sichert sie mit dem Zauberkreis, damit in der Nacht nicht irgendwelche Unholde um sie herum ihr Unwesen treiben und sie zugrunde richten, wie die Mutter zugrunde gerichtet, im allerschönsten Moment mitten aus allem Schönen herausgerissen wurde, man hatte sie einfach geholt, gestern war sie noch da, heute ist sie weg. Er befestigt auch die Straße, die vorbeiführt, stampft sie fest in den Boden, kerbt sie in die Landschaft ein, schlägt an beiden Enden Pfeiler in die Erde und bindet sie an, knotet sie an ihnen fest, zieht die Knoten unauflösbar zu, damit sie nicht
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