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Bostjans Flug - Roman

Bostjans Flug - Roman

Titel: Bostjans Flug - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mühle auftauchte. Sie ging zwar immer vorbei, doch Gelegenheiten ergaben sich nur wenige. Einmal war er gerade von einer Pechsträhne verfolgt, unter der Hose konnte er die Striemen zwar verbergen, nur aus dem Schritt ließen sie sich nicht vertreiben, und Boštjan hatte keine Lust, sich Lina mit blau geschlagenem Hintern und verräterischem Humpeln zu zeigen. Auch die Straße, seine Verbündete, die ihn immer wieder hinauslocken konnte und ihn durch die Freiheit, die Unbegrenztheit herausforderte, seinen Belebungsort von Zeit zu Zeit aufzusuchen, an dem Tag jedoch war er übereilt aus dem Haus gestürzt, selbst die Straße widersetzte sich ihm diesmal. Boštjan wußte, sollte er Lina folgen, würde er nach wenigen Schritten Hals über Kopf umkehren. Die Straße widerstrebte seinem zappelnden Gang, seinen blauen Flecken, die sich inzwischen vergrößert hatten, sie stellte sich ihm entgegen, obschon nicht so auffällig, entschlossen und ungehemmt, nicht so überraschend und verhängnisvoll wie damals, als ihm gerade auf ihr das Zugrundegehen der Mutter eröffnet wurde und ihm der Ort erschien, wo sie zu Tode kam. So war es also, sie befand sich da, wo sie nicht hinzugehen geglaubt hatte, im Allerfernsten, im Unbekannten war sie gelandet, sie, die nur kurz auf den Gendarmerieposten in den Markt
hinunter mußte. Aus einem so unscheinbaren Weg in nächster Nähe erwuchs ein so großer und so weit entfernter. Wie ein Licht aus der Finsternis war es aufgeflammt, plötzlich, unvorhersehbar, am Lebensnerv wurde er getroffen, ein Schwarm Eisenkugeln zerstob knatternd im Unsichtbaren. Ähnlich hatte es ihn verkrampft, ihm die Kehle zugeschnürt wie damals im Stübchen der Großmutter, es kam über ihn, und er wußte, wußte es, daß gerade jetzt, während er auf der Straße dahingeht, die Mutter ins Gas geschickt wird, in uneinholbarer Ferne, nur für wenige Augenblicke der Reichweite von Boštjans Bewußtsein angenähert, wie wenn Schönwetter die Nebelschwaden auseinandertreibt, die Räume erhellt, die Umstände an den Tag bringt, kurze Zeit dem Blinden und dem Tauben die Schleier lüftet, alles blitzartig klarmacht, das ganze Elend der Mutter aufzeigt, am Morgen, beim Waschen, in der großen, niedrigen Halle mit den Düsen an der Decke. An jenem Morgen hatte er sich schon von daheim aufgemacht, um dem Vater das Essen in den entlegenen Holzschlag nachzutragen, denn der Vater nahm sonntags abends, wenn er in die Holzfällerhütte zurückkehrte, nur das frisch gefeilte und geschärfte Werkzeug mit und etwas Nahrung für den Anfang. Immer zur Wochenmitte brachte ihm Boštjan das Essen nach, auch an jenem Tag war er, mit Nahrungsmitteln und anderen Sachen beladen, bereits aus dem Haus, als ihn die Straße unerwartet in die Enge nahm, zum Anhalten zwang, auf den Schotter bannte, das Hinscheiden der Mutter zeichnete. Der Boden gefror an seinen Sohlen, es war keine Kraft mehr in den Beinen, kein Schritt mehr unter den Füßen. Ein schwarzer Fleck senkte sich auf seine Augen und machte ihn einige Momente lang blind, doch in dieser Dunkelheit, hinter dem Fleck, erschien die leuchtende Gestalt der Mutter. Lan
ge dauerte ihr Sterben, begann immer wieder vom Ende her, langsam wurde ihr der Tod verabreicht, und noch ehe sie weg war, schleppte er sich ins Haus.
    Boštjan, plötzlich angehalten, auf der Stelle verrammelt, seit dem Tod der Großmutter vertraut mit Matildas Polterwerken, mit den Begleiterscheinungen des Sterbens, und Zeuge ihres Hinscheidens in jener Schaubnacht, als das Geschirr aus der Küchenkredenz niederdonnerte und das Besteck auf den Boden rasselte, Boštjan begriff, was ihm die Mutter zu verstehen geben will, sie säumt und gibt ihm Zeichen, die außerhalb der Zeit sind; sie teilt ihm, als er, die Lebensmittel im Rucksack, auf die Straße tritt, aus der Ferne ihre Stunde mit. Ihm schien, als würde er wieder von einem Wesen angesprochen, obwohl sich keine Menschenseele in der Nähe befand, so wie er schon vorher oft angesprochen worden war; zu sehr in seine Stille eingeschlossen und zu tief ins Schweigen zurückgezogen, hatte er darauf nicht reagiert. Es lag nicht in seinem Sinn, die Geister herauszufordern, darauf war er nicht vorbereitet, weil er einen Schleier vor den Augen und zuviel Angst im Blut hatte. Aber diesmal blieb Boštjan sofort stehen und hörte hin, als es sich zu entwirren begann und ihm blitzschnell klar wurde, als es aus dem Nichts zu kommen begann und mit einem Knall dastand. Es tat sich auf,
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