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Bostjans Flug - Roman

Bostjans Flug - Roman

Titel: Bostjans Flug - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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plötzlich sah er ein, der Schleier löste sich, die Mutter ist es, die sich ihm hier zu erkennen gibt. Er sieht sie zwischen den Baracken, zu zweit mit einer aus dem Ort, zu dritt auf der Holzpritsche, beim Antreten in der Reihe zwischen den Baracken. Vorher konnte sie sich ihm nicht offenbaren, bis zuletzt hielt sie die Nachricht zurück, weil sie sie an diesen Tagen nicht zu übermitteln vermochte. Die Ungewißheit, ob sie dem Schrecken der Gaskammer entkommen
würde oder nicht, war es, was sie bis zum letzten zögern ließ. Noch in der Gaskammer, unter den Düsen, wo sie sich dann zwischen den Frauen zusammengedrängt fand, versuchte sie es sich zu verheimlichen, und auch der Wald der über die Köpfe erhobenen Hände täuschte sie, das jähe Gedränge drückte sie nieder. Einige Hände ragten einzeln in die Höhe, andere klammerten sich aneinander fest, die straff emporgestreckten Hände hielten die entkräfteten, damit sie nicht heruntersanken. In dieser Schwebung, auf diesem wogenden Feld von Händen und Fingern kam hundertfaches Leben zum Ermatten und zum Stillstand. Seit Ugav ums Haus gefegt war, hatte sie angefangen, mit dem Leben abzuschließen, war als Todgeweihte schon öfters damit fertig, doch immer mit dem Quentchen Hoffnung, es könnte ein Wunder geschehen und das Leben an einem wenn auch dünnen Faden hängenbleiben. Noch unter den Düsen wollte sie es nicht wahrhaben, die rosarote Optimistin, die leichtgläubige Entführte, die junge Berglerin, die sich Hügel und Täler erwartet hatte, sie wollte es nicht glauben, daß sich die Wunder erschöpft hatten, daß in dieser Einzwängung, auf diesem schmalen Acker, kein Platz mehr für ein Wunder war. Noch unter den Gasdüsen wehrte sie sich gegen das Wort, hielt sie die Nachricht zurück und leugnete das Geschehen, aus Furcht, sie könnte es durch die Bestätigung selbst beschleunigen, in Gang bringen, durch die Benennung allein schon über sich und die Gefährtinnen herabbeschwören. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß diesmal tatsächlich das versprochene Wasser aus der Dusche träufeln würde, ausnahmsweise Wasser, das sie alle vom Schmutz befreien, ihnen die Läuse aus dem Haar schwemmen, das Jucken mildern, die Krätzen, Entzündungen und Eiterungen, die Erfrierungen und den Hunger lindern wür
de. Als die Düsen an der Decke dann das Ihre getan hatten und die Veränderung auch sie erfaßte; als sich die eingepferchten Körper ein wenig setzten und auch die erhobenen Hände durcheinander Wellen schlugen; als sich die Körper stehend völlig in den Tod auflösten, in ihrer Qual entäußert, und die Menge um einen Knick im Knie zusammensackte, sich als ganze etwas zur Seite neigte, doch noch immer stand; als die zusammengepreßten Leichen bei der Tür dann als erste nacheinander in die Öffnung stürzten, entwand die irre Nachricht sich von selbst dem Leib, entflatterte der Gaskammer, flog heimwärts und erreichte Boštjan, der mit den für den Vater eingepackten Lebensmitteln im Rucksack mitten auf der Straße stand.
    Seit man sie aus dem Stübchen getragen und ordnungsgemäß bestattet hatte, war die Großmutter bei ihm. Sie hatte nicht auf die paar Begräbnisgeher und Besprenger gehört, sich herzlich wenig um das Brimborium gekümmert und war den Tröstungen des Pfarrers nicht erlegen, ein solches Leben in der Fremde sagte ihr nicht zu. Es gab nichts, wohin sie aufbrechen hätte wollen, nirgends wartete jemand auf sie oder hatte sich ihr angeschlossen, allein Boštjan war es, der sie vermißte. Darum huschte sie in einen Nebelschleier, der in der Nähe war und in dem Moment den Abendstern verdeckte, als dieser tief im Süden hing und sich in den Morgenstern verwandelte. Die Großmutter, die wie nebenbei mit der Schlange fertig wurde und in jugendlicher Leichtigkeit mit der Tödin Matilda und mit den Nachstellungen des Schaubs zu spielen pflegte, die mit der Geschmeidigkeit einer Eingeweihten starb, weil ihre Seele kaum noch an ihr haftete und es ein Wunder war, daß nicht schon früher, als sie noch zur Kirche ging, das Klopfen an die Brust und die laute Beterei und Singerei ihr die Seele aus dem Körper fort
gescheucht und weggeblasen hatten; sie starb leicht, hauchte ihr Leben aus, die Mutter aber nahm den Tod mit dem Atem auf, sog ihn ein, starb mühsam und findet jetzt nicht ins Paradies, irrt durch die Zeiten in der weiten Welt herum. Und wenn Ugav schon längst in seinem warmen Bett gestorben ist, mit einem letzten Blick vom Fenster auf
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