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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1
Autoren: Lavie Tidhar
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seinem angeschlagenen Zustand gewaltig auf die Nerven, dass der
Mann wie eine alte Standuhr ständig zwischen Paranoia und überschwänglicher
Fröhlichkeit hin- und herpendelte. »Also«, flüsterte er, »wir konnten Monsieur
Vernes Bericht über seine Expedition zu Calibans Insel, Die
geheimnisvolle Insel , besorgen, und auch Baudelaires revolutionäre
Gedichte Die Blumen des Bösen . De Sades Geschichte der Juliette hat Jack, glaube ich, noch nicht
für Sie auftreiben können.«
    Â»Das ist nicht für mich«, beeilte sich Marx zu sagen, »sondern für
einen Freund von mir.« Er richtete sich auf. »Gut gemacht, junger Freund.
Dürfte ich Sie bitten …«
    Â»Ich werde sie selbst zum Red Lion bringen«, versicherte Orphan.
    Marx lächelte. »Was macht die Dichterei?«, fragte er, ohne auf eine
Antwort zu warten. »Ich glaube, Jack erwartet mich. Ich werde mal runtergehen.
Und vergessen Sie nicht: Zu niemandem ein Wort.«
    Orphan legte den Finger auf die Lippen. Marx nickte, strich sich
erneut durch den Bart und verschwand durch die kleine Tür, die zum Souterrain
führte.
    Â»Für einen Freund von mir«, wiederholte Orphan laut und lachte. Dann
trank er einen großen Schluck Kaffee und beugte sich wieder über die Zeitung,
die natürlich ausführlich über die Vorfälle im Rose Theatre berichtete.
    Â» IRVING VERLIERT ENDGÜLTIG DEN KOPF !«, lautete
die reißerische Überschrift. » AUFFÜHRUNG GEPLATZT !«
Der Name des Journalisten – ein gewisser R. Kipling – war ihm vertraut: Sie
hatten etwa das gleiche Alter und waren sich schon mehrmals in der Stadt
begegnet, ohne sich füreinander erwärmen zu können. Kipling war ein überzeugter
Anhänger der calibanischen Dynastie, was auch aus seinem Artikel hervorging:
    Â»Am späten gestrigen Abend (schrieb Kipling) explodierte bei der
umstrittenen Aufführung der Ballade vom alten Seemann eine
Bombe. Dabei wurde Mr. Henry Irving, der Star und künstlerische Leiter der
Inszenierung, getötet, mehrere Personen trugen Verletzungen davon. Die Polizei
hat das Gebiet abgesperrt. Die Untersuchung liegt in den Händen von Irene
Adler, Scotland Yards neuer, höchst beeindruckender Inspektorin. Die Aussagen
der Augenzeugen lassen darauf schließen, dass Irving von einem Sprengsatz in
einem Buch getötet wurde, welches der junge Schauspieler Beerbohm Tree, der die
Rolle des alten Seemanns spielte, ihm auf der Bühne überreichte. Irvings Stück
hat in offiziellen Kreisen großen Unwillen hervorgerufen und wurde zu Recht von
allen gesetzestreuen Bürgern und treuen Dienern der Lézards abgelehnt. Bei
gewissen revolutionären Elementen erfreute es sich jedoch großer Beliebtheit
und wurde bedauerlicherweise nicht verboten, da unsere Königin eine gütige
Herrscherin ist und sich der in unserem Staat geltenden Redefreiheit
verpflichtet fühlt.«
    Orphan seufzte und rieb sich die Augen; er brauchte unbedingt eine
Rasur. Nachdem er noch einen Schluck des (inzwischen kalt gewordenen) Kaffees
getrunken hatte, las er weiter, obwohl er nicht mehr bei der Sache war:
Unablässig musste er an Lucy denken, ständig kehrten seine Gedanken zur letzten
Nacht zurück, zu den Worten, die sie zueinander gesagt hatten, und dann zu dem
Kuss, der ihre Zukunft besiegelt hatte. Seufzend kratzte er an seinen
Bartstoppeln herum und beschloss, sich den Nachmittag freizunehmen, um Lucy zu
besuchen. Sollte Jack doch zur Abwechslung auch mal ein bisschen arbeiten. Er,
Orphan, hatte heute Besseres zu tun.
    Â»Wenngleich die mit der Untersuchung Betrauten sich in Schweigen
hüllen (fuhr Kipling fort), ist es dem Schreiber dieser Zeilen gelungen, eine
erstaunliche Entdeckung zu machen. Obwohl Irvings Bühnenpartner, der junge
Beerbohm Tree, ebenfalls bei der Explosion getötet worden sein soll, ist mir zu
Ohren gekommen, dass heute ein Mann in Haft genommen und einem Verhör
unterzogen wurde, auf den haargenau Beerbohms Beschreibung zutrifft! Doch wenn
Beerbohm noch am Leben ist, wer war dann der Mann, der Irving auf der Bühne das
Buch übergab? Wenn es überhaupt ein Mann war …«
    Abermals läutete die Türglocke. Orphan hob den Kopf und lauschte auf
die sich nähernden Schritte. Schon bevor der Betreffende sich zeigte, wusste
er, wer es war. Zu dieser Tageszeit kam selten Laufkundschaft ins Geschäft.
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