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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1
Autoren: Lavie Tidhar
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sich enger
aneinander. Trotz des dicken Mantels spürte Orphan Lucys Wärme – und gleich
fühlte er sich besser, denn es brachte ihm zu Bewusstsein, dass er am Leben
war.
    Â»Keine Ahnung«, sagte er. »Aber ich nehme an, dass wir morgen in den
Zeitungen darüber lesen werden. Könnte jemand gewesen sein, der einen Groll auf
Irving hatte. Mit der Inszenierung des Alten Seemanns hat
er sich ja nicht gerade beliebt gemacht.«
    Â»Zum Beispiel die Leute aus Porlock?« Lächelnd hakte sie sich bei
ihm unter. »Sag mal, Orphan, hast du dich gestern Abend als Clown verkleidet
und Mr. Wilde mit Limericks bombardiert?«
    Â»Ich …«, setzte Orphan an, doch Lucy brachte ihn zum Schweigen,
indem sie ihm den Finger auf die Lippen legte. Orphan schloss die Augen und
überließ sich dem sinnlichen Eindruck, den ihm Lucys Finger, der nach Gewürzen
duftete und nach Flusswasser schmeckte, bereitete.
    Â»Wir alle haben unsere kleinen Geheimnisse«, sagte sie mit sanfter
Stimme. Sie zog den Finger weg, und als Orphan die Augen öffnete, standen sie
sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie war genauso groß wie er und sah
ihn mit ihren dunklen Augen unverwandt an, während sich ihr Mund zu einem
halbmondförmigen Lächeln verzogen hatte. Ihre Zähne waren weiß und
unregelmäßig, die Eckzähne ziemlich lang.
    Sie küssten sich. Ob sie ihn zuerst küsste oder er sie, war ohne
Belang. Sie strebten wie die entgegengesetzten Pole eines Magneten aufeinander
zu. Lucys Lippen waren kalt, wurden jedoch bald heiß; ihre Augen verzehrten
ihn. Seine Gedanken ließen sich weder in ein Gedicht noch in bloße Worte
fassen.
    Als sie sich voneinander lösten, waren sie beide ein wenig außer
Atem. Lucy grinste ihn an.
    Â»Komm!«, sagte sie, nahm Orphan bei der Hand und rannte mit ihm den
Uferdamm entlang, sodass ihnen die kalte Luft ins Gesicht peitschte und der
Nebel in wallende Bewegung geriet. Orphan, nach dem Kuss immer noch außer Atem,
spürte, wie ihn ein seltenes Glücksgefühl überkam. Er warf den Kopf zurück und
lachte. In diesem Moment teilten sich die Wolken, sodass er kurz das unförmige
Gesicht des gelblich leuchtenden Mondes zu sehen bekam. Dann rückten die Wolken
wieder zusammen, und Orphan rannte weiter, rannte zusammen mit Lucy auf den
immer lauter werdenden Gesang der Wale zu, der ihnen von der Westminster Bridge
entgegenschallte.
    Auf der anderen Seite des Flusses setzte Big Ben gerade an,
majestätisch Mitternacht zu schlagen.
    Was ist Orphan von jener Nacht in Erinnerung geblieben?
Eine Kakophonie sinnlicher Eindrücke, eine Art Basar, durch den er schlendern
kann, um wie nach Kuriositäten und gebrauchten Büchern nach Sinneswahrnehmungen
zu greifen und sie wieder zurückzulegen. Hier ist ein Stand mit Geräuschen: Er
bleibt stehen und langt nach dem Knall der Explosion, vergleicht ihn mit dem
Gesang der Wale, dem Lucy ihn entgegenführte, als sie sich der Südseite der
Westminster Bridge näherten und die Herde sie mit einer Symphonie begrüßte, in
die auf seltsame Weise alles verwoben schien – das ferne Licht der Sterne, das
warnende Blinken der durch die Nacht fliegenden Luftschiffe, die ersterbenden
Flammen flussabwärts, der salzige Geschmack eines Kusses. Dann bleibt er vor
einem Stand stehen, wo Berührungen im Angebot sind: Abermals spürt er die heiße
Umarmung, spürt, wie seine Hand die feuchte, glitschige Haut eines Wals
berührt, der lautlos aus der Themse aufgetaucht war und eine Wasserfontäne in
Richtung Mond spritzte, eine Erinnerung, die in Orphan auch jetzt wieder
sprudelndes Lachen aufsteigen lässt.
    Als sie an jenem Abend die Herde besucht hatten, waren die Wale –
dunkle, wunderschöne Kreaturen – wie schnittige U-Boote einer nach dem andern
aus dem Wasser aufgetaucht, um sie zu begrüßen.
    Â»Komm!«, hatte Lucy gesagt, und er war ihr gefolgt, so wie er ihr
überallhin folgen würde, selbst in den Tod.
    Im Mondlicht unter der Westminster Bridge küsste er sie noch einmal.
»Willst du mich heiraten?«, fragte er.
    Â»Ich werde überall bei dir sein«, sagte sie, während sich das
Sternenlicht in ihren Augen widerspiegelte. »Wir werden uns nie trennen.«
    Â»Wo warst du?«, fragte Jack, als Orphan hereinkam. »Im Rose
Theatre? Weißt du eigentlich, was da los ist?« Stirnrunzelnd musterte er
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