Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1
Autoren: Lavie Tidhar
Vom Netzwerk:
der Themse gewühlt.
    Â»Wie geht es den Walen heute?«, fragte er.
    Â»Sie sind unruhig. Warum, weiß ich nicht. Als du am Uferdamm
entlanggegangen bist, hast du da nicht bemerkt, dass ihr Gesang sich verändert
hat?«
    Wie sie da inmitten der Zuschauermenge an der Balustrade lehnten,
kam es ihnen vorübergehend so vor, als befänden sie sich in einer kleinen,
dunklen, behaglichen Nische, einem Raum, in dem sie ungestört unter sich waren.
    Â» Du bist doch die Meeresbiologin«,
erwiderte Orphan. »Ich bin nur ein Dichter.«
    Â»Mit Walen zu arbeiten ist so, als arbeitete man mit Dichtern«,
sagte Lucy und steckte Notizbuch und Füllfederhalter in den kleinen Beutel, der
über ihrer Schulter hing. »Beide sind schwer zu bändigen, dickköpfig und
aufgeblasen.«
    Orphan lachte und nahm ihre Hand. Es überraschte ihn immer wieder, wie
rau ihre Handfläche war; das war eine Hand, die harte Arbeit kannte. Ihre
dunklen, unwiderstehlichen Augen funkelten wie Sterne, und um die Augenwinkel
breitete sich ein feines Netz fast unsichtbarer Lachfalten aus. »Ich liebe
dich«, sagte Orphan.
    Sie lächelte ihn an, und er küsste sie.
    Auf der Bühne hatte inzwischen der letzte Akt begonnen. Henry Irving
gab die Rolle des Erzählers auf, um so kraft- und schwungvoll, wie nur er es
vermochte, Shakespeare darzustellen, den Dichter und Dramatiker, der am Hof des
Echsenkönigs Karriere gemacht und als Erster das Amt eines Dichters und
Premierministers bekleidet hatte.
    Orphan und Lucy verfolgten, wie der alte Seemann auf die Bühne
geschlurft kam, um Lord Shakespeare seine Lebensgeschichte zu überreichen. Orphan,
der sich von Natur aus für Bücher interessierte, sah genau hin. Es war ein
schwerer, in Leder gebundener Folioband, auf dessen Rücken in Goldbuchstaben
der Titel prangte: Die Ballade vom alten Seemann .
    Â»Wie die Nacht so zieh ich von Land zu Land«, rief der alte Seemann
(dargestellt von einem jungen Schauspieler namens Beerbohm Tree, der Orphan
irgendwie bekannt vorkam), »kann Worte mit Meisterschaft wählen« (an dieser
Stelle holte er tief Luft, bevor er fortfuhr), »am Gesichte seh ich es jedem
an, ob dieser wohl der richtige Mann, ihm meine Geschicht’ zu erzählen!« Dann
reichte er das schwere Buch an Shakespeare weiter, der es mit huldvollem Nicken
entgegennahm, auf den Tisch legte und aufschlug …
    Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, und das Buch explodierte, löste
sich in eine Staubwolke auf (von da an verlangsamte sich für Orphan alles).
    Die keine Staubwolke war, sondern Granatsplitter (mit ruckartigen,
schlafwandlerischen Bewegungen packte Orphan Lucy, riss sie mit sich zu Boden
und warf sich schützend über sie) …
    â€¦ die Shakespeare beziehungsweise Irving den Kopf abrissen und eine
Blutfontäne aufspritzen ließen.
    Gellende Schreie erklangen, die Bühne krachte zusammen. Das war, wie
Orphan, der auf dem Boden lag, in seiner Benommenheit dachte, während er das
Mädchen, das er liebte, fest umklammerte, ganz entschieden das Ende der
Vorstellung.

2
Lucy
    Und als der Garten uns umgab,
Bergauf ging’s, immer höher,
Da sank der Mond so still herab,
Kam Lucys Häuschen nah und näher.
    William Wordsworth, »Lucy«
    Sie gingen zusammen den Uferdamm entlang. Hinter ihnen
brannte lichterloh das Rose Theatre. Orphan hatte eine Schnittwunde in der
Schulter, die er mit einem Stück Tuch verbunden hatte. Lucys dicker Mantel war
voller Putz und Dreck, der sich nicht abwischen ließ. Beide waren sehr
aufgewühlt.
    Ein Polizeiroboter, der auf den Ort der Explosion zusteuerte, rollte
an ihnen vorüber. Auf seinem Kopf blinkte ein blaues Licht. »Verlassen Sie die
Gegend!«, quäkte er. »Verlassen Sie die Gegend! Gefahr! Gefahr!«
    Â»Ja«, murmelte Lucy, »haben wir auch schon bemerkt. Die Explosion
war nicht zu überhören.«
    Beide brachen in Lachen aus, und Orphan spürte, wie seine Anspannung
etwas nachließ. Der Roboter, den seine verborgenen Räder rasch weitertrugen,
verschwand hinter ihnen in der Dunkelheit.
    Â»Was glaubst du, wer hinter dieser Sache steckt?«, fragte Lucy.
    Â»Du meinst, wer den Bookman angeheuert
hat?«
    Â»Ja«, erwiderte Lucy. »Das werde ich wohl meinen.«
    Der wabernde Nebel um sie herum dämpfte den Schein der Flammen, die
hinter ihnen gen Himmel züngelten. Unwillkürlich schmiegten sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher