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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1
Autoren: Lavie Tidhar
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Souterrain führte.
    Es gelang Orphan, Tom Thumb in seiner Unterkunft nahe der
Charing Cross Station ausfindig zu machen. Nachdem er den kleinen Mann geweckt
hatte, rang er ihm das Versprechen ab, ihn für den Rest des Tages im Laden zu
vertreten.
    Â»Verdammte Dichter«, grummelte Tom Thumb, während er aus seinem
Pyjama und in einen zerknitterten Anzug schlüpfte. »Säuseln dauernd von Liebe und
Blumen und grasenden Schafen. Die einzigen Schafe, die ich mag, sind die am
Bratspieß.«
    Â»Ich bin dir was schuldig«, meinte Orphan grinsend. Tom schüttelte
den Kopf und knöpfte sich das Hemd zu. »Das hab ich schon zu oft gehört,
Jungchen», gab er zurück. »Lass lieber Zaster sehen.«
    Â»Sobald Jack mich bezahlt«, versprach Orphan und machte sich davon,
bevor Tom es sich anders überlegen konnte. Eine Melodie aus Gilbert und
Sullivans neuestem Stück Ruddigore vor sich hin
pfeifend, ging er den Strand hinunter.
    In Westminster überquerte er, immer noch pfeifend, den Fluss. Auf
der anderen Seite konnte er bereits die Wale sehen, deren Gesang ihm
entgegenschallte und sich chorartig mit seinem Pfeifen mischte. Ihm war
ungemein leicht zumute. Beschwingt ging er die Treppe hinunter und steuerte auf
die Gestalt zu, die am Rand des Ufers stand.
    Â»Orphan?«
    Plötzlich fühlte er sich befangen. Lucy drehte sich um und sah ihn
mit strahlendem Lächeln an. Hinter ihr kam ein Wal an die Oberfläche und stieß
schnaufend eine Wolke feinen Wasserdunstes aus.
    Â»Ich habe dich vermisst«, sagte Orphan zu ihr.
    Sie standen voreinander und grinsten sich an. Nachdem der Wal noch
einmal ein- und ausgeatmet hatte, tauchte er wieder in das blaugrüne Wasser der
Themse ab.
    Â»Ich habe gehofft, dass du kommen würdest«, erwiderte Lucy, deren
große, das Sonnenlicht reflektierende Augen die Farbe der Themse hatten.
    Â»Ich würde dir überallhin folgen«, entgegnete er. Lucy gab ein
entzücktes Lachen von sich und küsste ihn.
    Später sollte er sich an diesen Moment erinnern. Alles schien sich
zu verlangsamen. Das Licht der Sonne brach sich im Atemdunst der Wale und
bildete unzählige kleine Regenbögen. Obwohl eine kühle Brise ging, war ihm
warm, während er Lucys Hand hielt und ihre Lippen küsste, die wie Tee mit Zimt
schmeckten. »Ich liebe dich«, flüsterte er.
    Er sah, wie sich sein Gesicht in ihren Augen spiegelte. Sie
blinzelte ihre Tränen weg. »Ich liebe dich auch«, antwortete sie, und eine
Weile waren sie von regloser Stille umgeben.
    Dann lösten sie sich voneinander. Die Dunstwolke wurde von der Brise
weggeweht, die Sonne setzte ihre gemächliche Wanderung über den Himmel fort.
Lucy zeigte auf einen Eimer. »Hilfst du mir, die Wale zu füttern?« Orphan griff
nach den sich noch windenden Tentakeln eines Tintenfischs und warf ihn in hohem
Bogen in den Fluss.
    Ein kleiner Wal tauchte auf, atmete laut aus (was sich wie
prustendes Lachen anhörte) und verschwand mit seiner Beute im Wasser.
    Auf dem gegenüberliegenden Ufer fing Big Ben zu läuten an. Die
Schläge klangen wie die letzten Silben eines Sonetts.

4
Gilgamesch
    Und in all der Zeit mit blinden braunen
Fingern
Malte er verschlungene Zeichen in den Schmutz,
Die besagten:
Gilgamesch war hier.
    L. T., Das Epos von Gilgamesch
    Als sie sich trennten, dämmerte es bereits, und am Himmel
gingen wie scheel dreinblickende Augen die ersten Sterne auf. Orphan war in
Hochstimmung, denn nachher, beim Start der Marssonde in Richmond-upon-Thames,
würde er Lucy wiedersehen. Er hatte versprochen, sich dort einzufinden, sobald
er bei Gilgamesch gewesen war. Er machte sich nämlich Sorgen um seinen alten
Freund, der immer so etwas wie Familie für ihn gewesen war. Gilgameschs Leben
war hart, die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. »Sieben Uhr
dreißig!«, sagte Lucy, als sie ihn zum Abschied küsste. »Und sei ja pünktlich!«
    Orphan ging die kurze Strecke zur Waterloo Bridge am Uferdamm
entlang. Er hatte vor, sich mit Gilgamesch zu unterhalten, doch als er den Brückenbogen
erreichte, war dort nichts von seinem alten Freund zu sehen.
    Orphan rief nach ihm; seine Stimme hallte schaurig von der
Brückenwölbung wider. Dann trat er näher an den Rand des Ufers. Dort befand
sich ein kleiner Steinkreis, in dem Gilgameschs Feuer gebrannt hatte. Zwischen
den Steinen lag kalte Asche, eine dunkle
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