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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel
Autoren: Brigitte Blobel
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hier in dieser Klinik, spüre ich, dass ich immer noch Lust habe, etwas zu lernen und voranzukommen. Ich bin eben so. Und Frau Feddersen und die anderen Lehrer haben das damals erkannt und wollten mir dabei helfen. Das war ein so großartiges Gefühl, dass ich vor Dankbarkeit weiche Knie hatte und beinahe losgeheult hätte.
    Es war der wichtigste Tag für mich, seit wir in Deutschland angekommen waren.
    Als wir die Wohnung der Direktorin verließen und durch den schönen Garten auf das schmiedeeiserne Tor zugingen und der Kies unter meinen Schuhen knirschte - da empfand ich mich zum ersten Mal als Deutsche. Wir hatten zwar schon deutsche Pässe, doch als wirklich zugehörig haben wir uns nicht gefühlt, weil die Menschen, mit denen wir redeten, uns - oder genauer: meine Eltern - immer sofort am Dialekt erkannten. Und dann fragten: Woher seid ihr?
    Und wenn ich dann für uns antwortete: Wir sind Deutsche, dann fragten sie mich trotzdem: Aber woher kommt ihr? Aus Russland? Oder Ex-Jugoslawien?
    Immer war da sofort eine Mauer. Unsichtbar für die anderen, aber für mich so real, dass ich glaubte, ich würde mich daran blutig stoßen.
    An diesem Nachmittag war die Mauer auf einmal weg. Als habe sie nie existiert. Als habe ich mir das alles immer nur eingebildet, die Zurückweisung, das Abschätzende … Im Bus hatte ich einmal gehört, wie zwei Frauen in der Reihe vor mir über Spätaussiedler aus Russland sprachen. Die eine meinte: »Das ist doch unglaublich, dass wir von unseren Steuergeldern diese Schmarotzer finanzieren müssen.
Die lassen sich alles bezahlen, kommen hier ins Schlaraffenland und unsereins rackert sich ab.« Und die andere fügte grimmig hinzu: »Sollen sie doch alle wieder dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind. Wir brauchen sie hier nicht. Keine Türken. Keine Russen. Überhaupt keine Fremden.«
    Hey, dachte ich, als wir jetzt auf unser Auto zusteuerten, vielleicht braucht ihr uns doch? Und ich stellte mir vor, dass ich irgendwann einmal, vielleicht als Ärztin an einem Krankenhaus, genau diese beiden Frauen vor mir hätte. Beide vielleicht schwer verletzt. Und davon abhängig, dass ich es war, die wüsste, wie man sie wieder gesund machen könnte. »Da seht ihr, wie ihr uns braucht«, würde ich sagen, bevor man sie in den OP brächte. -
    Beim Einsteigen ins Auto gab ich meiner Mutter einen Kuss und dann meinem Vater.
    »Was hast du, Kätzchen?«, fragte Mama überrascht. Wir küssen uns nicht mehr besonders oft. Ich bin schließlich schon vierzehn. Da träumt man eher davon, einen tollen Jungen zu küssen. Besser noch: von einem tollen Jungen geküsst zu werden. Da sind die Eltern nicht unbedingt das, was man zum Kuscheln braucht.
    »Dein Kätzchen ist einfach nur glücklich«, sagte mein Vater. »Siehst du das nicht?«
    Papusch, dachte ich, du bist zwar nicht mein richtiger Vater, aber du kennst mich besser, als es ein leiblicher Vater könnte.
    Ja, ich war superglücklich. Ich freute mich, ich war ungeduldig, ich wäre am liebsten noch am gleichen Nachmittag zu meiner neuen Schule gefahren. Ich wollte meine Eltern überreden, einen kleinen Ausflug dorthin zu machen. Dass wir uns einfach nur einmal umsehen. An meiner neuen Wirkungsstätte,
sozusagen. Ich brannte darauf, endlich Schülerin eines Gymnasiums zu sein, mit der Aussicht aufs Abi, auf ein Studium. Lernen hat mir, im Gegensatz zu vielen anderen Schülern, immer Spaß gemacht. Ich hatte aber auch Glück: Es fiel mir alles so leicht. Ich war riesig neugierig auf die Schulbibliothek, die ich mir gigantisch vorstellte, ich freute mich auf schlaue Lehrer, die mir alles beibringen würden, was ich wissen wollte. Es würde großartig werden.

    Aber meine Mutter wollte nicht. Sie sagte, sie habe auf einmal Kopfschmerzen. Außerdem seien ihre Füße eiskalt. Überhaupt sei ihr irgendwie nicht gut. Sie nahm mich in den Arm und sagte: »Lass uns nach Hause fahren. Wir machen es uns gemütlich.«
    Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt es mir so vor, als wenn meine Mammutschka da schon so etwas wie eine Ahnung hatte, unbewusst. Von dem, was mich erwartete. So eine Art sechsten Sinn.

    Der Erlenhof hat eine eigene Website. Wenn man die anklickt, dann baut sich sofort ein Bild auf von einem schlossartigen Gebäude, riesig, mit einer großen Freitreppe, davor Rasen und Kieswege. Echt beeindruckend. Darüber läuft dann die Schrift: »Ein Internat stellt sich vor: Der Erlenhof am Langen See. Ein neusprachliches Gymnasium, das Jungen und Mädchen
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