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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht
Autoren: Sylvie Schenk
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hatte: Die Kunst macht aus Nassem Trockenes, aus Tiefem Flaches, aus Bewegungen Erstarrung, und doch schafft es die Kunst, Nasses, Tiefes und Bewegung herzuzaubern. Der Typ, der sie ansah und seinen Dunst ausstrahlte (oder roch er nur etwas säuerlich nach Schweiß?), war kein schöner Mann, auch kein richtig gräulicher, aber wegen des zerknitterten graugrünen Hemdes und der weit auseinanderstehenden Augen ordnete ihn der Biologiestudent Martin in die Ordnung der Froschlurche ein. Er betrachtete diesen großen grauen Kopf zwischen den massiven Schultern aus so großer Nähe, wie man ein erstarrtes Tier beobachten würde, und er hatte die Vision des Amplexus, des Zustands der Weibchen, die von den Männchen während der Paarungszeit umklammert werden und diese dann huckepack zum Teich oder See bringen müssen. Er oder sie dachte sofort: Ich muss hier weg. Der Mann war aus einem alten Gemälde ausgestiegen und suchte im Nebel ihrer Zigarette nach Worten. Das erste klang wie ausgehustet und hieß Süße, na, Süße, und Martina kam ihm zuvor, benutzte ihn als Testperson: Ich bin ein Mann, sagte die Provokateurin und lächelte süß. Und die Testperson lachte: Na ja, das möchten viele Mädel sein, für schöne Frauen wie Sie aber ein unfrommer Wunsch. Er richtete sich auf und Martina berührte spontan seine Hand und sagte: Man macht, was man kann. Der Frosch lachte wieder, neigte sich noch einmal zu Martina und flüsterte: Ich bin der Franz. Ich muss gehen, sagte Martina oder eher Martin, es war nett, dich kennenzulernen. Der Frosch rückte näher, bückte sich wieder, wollte Martinas Blick auffangen, sie ließ es geschehen und spürte Martins Herz wild klopfen. Ich muss hier weg, weg, weg. Dann gib mir doch deine Nummer, schöne Frau! Und sie wühlte verwirrt, blindlings eine Visitenkarte aus der Handtasche: Evelyn Gorda, Pianistin und Musikpädagogin.
    Martin hatte Evelyn Gorda immer bewundert, Evelyn Gorda zu sein wäre sicher sein Wunsch gewesen. Er war aber Martin Vanderbeke, und es war auch gut so.

FELD 2: MARTIN IM SCHILF
    Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt und verdrängt.
    Frei nach P ASCAL
    Der Herbst wechselte die Farben und trieb die Wolken. Er radelte zum Blausee. Seit der Kindheit war der See sein Gebiet: Wenn er lange genug die bebenden Spiegelbilder der Bäume anschaute, atmete er wieder ruhig; er roch an den Baumstämmen, an dem Harz, an dem Moos, tauchte gern in das dunkle Wasser und ließ den Biss der Kälte zu, während ihn das Wasser nach und nach von den Zehen bis zum Hals umschmiegte. Er schwamm durch gespiegelte Wolken, und später beobachtete er die Vögel und die Welt der Wassertiere.
    Er sagte den Wildenten und den Wildgänsen Adieu, die kreischend abreisten.
    Sie nahmen den Sommer mit. Er blieb, die Nase in der Höhe, bis sie verschwanden. Um ihn herum schwankten die leeren Felder und der See und das gelbe Schilf, die Farben verschwammen, und alles war nur Himmel, ein blasser Himmel mit langschwänzigen, erstarrten Wolken und den majestätisch gleitenden Vögeln. Er konnte ihre langen Hälse sehen, lugte auf die Verspäteten, die zu den Ersten schnellten, ein weiteres phänomenales V, V wie veloce, wie Verantwortung, jetzt alle zusammen ein überirdisches W, W wie West und Wind und Wald, Wandeln und Werden, ein Wille der Welt. Am anderen Ende des Fernglases Martin, chaotischer Wurm, begaffte die Abstimmung dieser Ordnung, verlor sich darin, bis sie mit der untergehenden Sonne verschmolz. Er hätte gern gewusst, wo sie übernachteten, die Wildgänse, gern hätte er dort ein Igluzelt aufgeschlagen, um morgen früh herauszuschlüpfen und zuzusehen, wie sie sich schnatternd versammelten und weiterflogen. Sie hatten Mitte August die Tundra verlassen und würden am Niederrhein überwintern.
    Er hörte einen Knall.
    Dann sah er sie auf dem Weg liegen, eine verletzte Graugans. Ihre Federn glänzten silbergrau und schwarz. Sie flatterte kurz mit den Flügeln, ohne sich zu erheben. Ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, noch zu landen. Als Martin sich näherte, durchzog eine schaudernde Woge ihr Gefieder, und er glaubte, ihren schrägen Blick zu spüren. Ihre schwarze Pupille flehte um Gnade, dachte Martin, der sich oft trotz wissenschaftlicher Ambitionen dabei überraschte, die Tierwelt zu
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