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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht
Autoren: Sylvie Schenk
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erkannte, sie ihre nicht. Du hast jetzt eine Freundin, Mama, lächelte er, ich habe dir eine verletzte Gans mitgebracht, spontan habe ich sie Angela genannt. Otta, schlug seine Mutter sofort vor, Otta passt besser zu dem Vieh. Hoffentlich ist Otta geistreicher als mein Sohn. Was fehlt dem Geflügel eigentlich? Ist es angeschossen worden? Nein, ich dachte es zuerst, weil ich einen Schuss gehört hatte, Otta ist aber ein Angleropfer, ein Haken steckt in ihrem Fuß und eine Nylonschnur hat sich um ihr Bein gewickelt, Überbleibsel einer Angelpartie. Sie soll nicht leiden, sagte seine Mutter und schnitt eine übertrieben grausame Grimasse, damit er den Scherz auch verstünde, ich lade dich morgen zum Gänsebraten mit Rotkohl ein. Seine Mutter liebte alle Tiere, »weil sie sich der Weltordnung beugen«, Vögel ganz besonders. Sie hatte Veterinärmedizin studiert, früh geheiratet und ihr Studium nicht abgeschlossen, da ihr Mann, der eine sehr erfolgreiche Weinhandlung aufgebaut hatte – er war selbst einer seiner eifrigsten Kunden – sie lieber zu Hause wusste. Erst fünfundvierzig war er an einem Herzinfarkt gestorben. Paula hatte sich ihr Leben lang ihren Hobbys, der Musik, der Malerei, der Literatur, ihrer Voliere, ihrem Gartenteich, ihren Blumenbeeten gewidmet. Auch mal dem mädchenhaften Sohn. Beide hatten sich ein Kind gewünscht, der Vater einen Jungen und die Mutter schwankte, eigentlich wollte sie beides und wurde erhört: Als sie den nackten Wurm in den Armen hielt, jubelte sie über seine großen Augen und sein wildes schwarzes Haar, freute sich wie jede Mutter, dass er zehn Finger hatte, ihre Hände glitten über den schön geformten Babykörper und stockten über der Rosenknospe seines lächerlichen Penis. Das wird noch, hatte der Vater mit unsicherer Stimme gesagt.
    Der Fernseher lief weiter, und Martin sah natürlich automatisch hin. Und seine Mutter fragte schon wieder, ob er sich nachts als Frau verkleiden würde, eines ihrer Kleider fehle, Simone habe es sicher nicht geklaut, sie trage nur Jeans, und er antwortete ihr wieder, wenn er gewusst hätte, dass sie ihn immer wieder mit dieser Frage nerven würde, hätte er sich ihr nie anvertraut. Ich sage dir nie mehr etwas, Mama. Und sie behauptete wieder, er sei doch alles in allem ein Mann, und: Was du in der Hose hast, stell dir das vor, mein Kind, das ist ein Geschenk der Natur, verschmähe es nicht, auch wenn es nicht die männlichsten Attribute sind, die ich kenne. Und er erwiderte wieder, dass er zurzeit überhaupt nichts verschmähe, weder Martin noch Martina, und was mit ihr heute los sei. Sie gab nicht auf: Oder hast du deinen Familienschmuck wegoperieren lassen, mein Sohn, und wodurch wurde er ersetzt? Ich habe dich als Jungen in die Welt gebracht, dein Vater hat sich so gefreut, einen Sohn zu haben! Wenn seine beschwipste Mama einmal in Fahrt kam, dann hörte sie nie freiwillig auf. Sie inszenierte ihre Unruhe, ihren Zorn, ihren beißenden Spott, übte sich mal cool, mal zynisch, ließ aber als Ausgleich ihr Tagebuch (das sie pompös als »Roman meines Lebens« betitelte, seitdem sie eine Schreibwerkstatt aufgesucht und schnell aufgegeben hatte) immer liegen, damit er verstohlen hineinblicken konnte, um ihre »wahren Gedanken« kennenzulernen. Sie hoffte, dass er es tat, verzog sich solang in den Garten, er sollte ja Zeit haben zu lesen, ihre Äußerungen zu ihrem Leben und zu seinem genießen, die Gott sei Dank nuancierter ausfielen als mündlich. Er wusste, dass sie draußen auf der Terrasse lugte, wie er auf ihre Blätter schielte, und dass sie auf seine Kommentare wartete. Er schrieb schwarz. Seine Mama suchte mit Farbstiften nach der Wahrheit. Distanz ist das A und O eines fortbestehenden Glücks, schrieb sie, wer sein Leben als selbst geschriebenen Roman ansieht, erträgt besser das Auf und Ab der Gefühle und die Tiefen und Höhen der Ereignisse. Er notierte dazu: Wer sein Leben als Roman ansieht, verleiht sich in den beschissensten Situationen Würde und Macht. Schließlich war auch Malcolm Lowry ein Säufer. Sie: Wer sein Leben als Roman konzipiert, weiß von der Notwendigkeit, es zu lenken, und vermag nicht, in der Passivität zu verharren. Und er: Wer sein Leben als Roman fabuliert, gewöhnt sich an unverschämte Repliken, die den Dialogpartner, der sich nicht unbedingt als Romanfigur ansieht, tief verletzen
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