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Blutstein

Blutstein

Titel: Blutstein
Autoren: Johan Theorin
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nicht einmal, als
er Marika vor fünfzehn Jahren auf einem Marketingseminar kennengelernt und kurz
darauf an einem sonnigen Tag im Mai geheiratet hatte. Als hätte er damals schon
geahnt, dass sie ihn eines Tages verlassen würde, früher oder später.
    »Hat Mama gesagt, wann sie kommen wollte?«, fragte er über die
Schulter.
    »Hm«, antwortete Nilla. »Zwischen sechs und sieben.«
    Per warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor fünf.
    »Möchtest du, dass Jesper und ich hier bei dir auf sie warten?«
    Nilla schüttelte den Kopf.
    »Ich komm schon klar.«
    Die Antwort hatte Per sich erhofft. Er hatte nichts dagegen, Marika
zu begegnen. Aber da sie extra nach Kalmar kam, nur um ihre Tochter zu
besuchen, war es gut möglich, dass ihr neuer Mann sie begleiten würde. Georg,
mit dem dicken Konto und den teuren Geschenken. Per war schon längst über die
Trennung von Marika hinweg, aber er hatte Probleme, den Mann zu treffen, der
sowohl sie als auch die Zwillinge vollkommen verhätschelte und verzog.
    Nilla hatte ein Einzelzimmer zugewiesen bekommen und schien bestens
versorgt zu sein. Ein junger Arzt war vor einer halben Stunde vorbeigekommen
und hatte ihnen genauestens erklärt, welche Proben und Tests sie in den nächsten
Tagen und in welcher Reihenfolge vornehmen wollten. Nilla hatte ihm mit
gesenktem Kopf zugehört, ohne eine einzige Frage zu stellen. Zwischendurch
hatte sie den Arzt angesehen, aber Per keines Blickes gewürdigt.
    »Wir sehen uns später, Nilla«, hatte sich der Arzt verabschiedet.
    Vor seiner Tochter lagen zwei anstrengende Tage mit langwierigen
Untersuchungen, aber Per wollte einfach nichts Aufmunterndes einfallen.
    Nilla packte unbeirrt ihre Sachen aus, und Per half ihr dabei. Es
war unmöglich, ein Krankenhauszimmer gemütlich zu machen, der Raum war zu kalt
und voller Schläuche und Alarmknöpfe, aber sie gaben ihr Bestes. Abgesehen von
ihrem rosa Kopfkissen hatte Nilla ihren CD -Player, Nirvana- CD s, ein paar
Bücher und mehr Hosen und Pullover mitgenommen, als sie eigentlich benötigen
würde.
    Sie trug Jeans und einen schwarzen Pullover, aber schon bald würde
die Schwester die typische Krankenhauskleidung vorbeibringen: ein weißes
Nachthemd, das sich bei den Untersuchungen leicht öffnen ließ.
    »So«, sagte Per. »Dann fahren wir jetzt mal los, aber Mama kommt ja
auch bald ... Soll ich Jesper holen?«
    »Ja, mach das.«
    Sein Sohn hockte auf dem Sofa im Wartezimmer. In einem Regal an der
Wand lagen Comics und Bücher, aber Jesper saß über seinen Gameboy gebeugt, wie
immer.
    »Jesper?«, rief ihn Per mit lauter Stimme.
    »Was is?«
    »Nilla möchte sich von dir verabschieden.«
    Jesper drückte auf die Pausetaste.
    Er ging ohne seinen Vater in das Zimmer seiner Zwillingsschwester
und schloss die Tür hinter sich. Per fragte sich, worüber die beiden wohl
sprachen. Fiel es Jesper leichter, mit Nilla zu reden, als mit ihm? Ob sie über
ihre Krankheit sprachen? Mit seinem Vater wechselte er selten ein Wort.
    Als sie noch klein waren, nur wenige Jahre alt, hatten die Zwillinge
eine Geheimsprache entwickelt, die nur sie verstanden. Es war ein Singsang, der
hauptsächlich aus Vokalen zu bestehen schien. Besonders Nilla hatte sich
schwergetan, Schwedisch zu lernen, sie zog lange die Geheimsprache vor. Bis Per
und Marika eine Logopädin gefunden hatten, die ihnen wirklich helfen konnte,
hatten sie sich mitunter wie Eltern von zwei Außerirdischen gefühlt.
    Eine Tür am Ende des Gangs öffnete sich. Der junge Arzt von vorhin
kam mit großen Schritten heraus. Per ging auf ihn zu. Er hatte schon immer eine
Schwäche für diese Berufsgruppe – weil ihm seine Mutter nie erzählen wollte,
welchem Beruf sein Vater nachging, hatte sich Per ausgedacht, dass Jerry als
Arzt in einem fremden Land arbeitete. Viele Jahre hatte er das dann geglaubt.
    »Ich habe eine Frage«, sagte er. »Es geht um Nilla, meine Tochter.«
    Der Arzt blieb stehen.
    »Ja, was kann ich für Sie tun?«
    »Sie sieht so verquollen aus«, sagte Per. »Ist das normal?«
    »Verquollen, wo denn?«
    »Im Gesicht, an den Wangen und um die Augen. Das wurde auf dem Weg
ins Krankenhaus immer deutlicher. Hat das etwas zu bedeuten?«
    »Unter Umständen«, erwiderte der Arzt. »Wir werden sie sehr
sorgfältig untersuchen. EKG ,
Ultraschall, CT ,
Röntgen, großes Blutbild ... das ganze Programm.«
    Per nickte, aber Nilla war schon so oft wegen ihrer sonderbaren
Beschwerden untersucht worden. Die Testergebnisse schienen nur immer
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