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Blutstein

Blutstein

Titel: Blutstein
Autoren: Johan Theorin
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neue
Untersuchungen nach sich zu ziehen. Und immer mussten sie abwarten.
    Die Tür zu Nillas Zimmer öffnete sich, und Jesper kam heraus. Er
wollte zurück ins Wartezimmer gehen, aber Per hielt ihn auf.
    »Fang kein neues Spiel an, Jesper«, sagte er. »Wir fahren jetzt
rüber zum Sommerhaus.«
    Als sie etwa eine Viertelstunde später die Ölandbrücke verließen und
nach Norden abbogen, empfing sie eine Landschaft in gelbbraunen Farben, die
Natur im Übergang vom Winter zum Frühling. Die Abendsonne beschien die
Straßengräben, in denen gelbe Windröschen und Huflattich blühten. Und direkt
dahinter lagen noch glitzernde Schneewehen auf den Feldern. Der schmelzende
Schnee hatte große Seen draußen in der Großen Alvar gebildet. Und von ihnen aus
machten sich kleine Frühlingsbächlein auf den Weg zum Meer.
    Eine Wasserwelt. Kein Mensch hielt sich dort auf, nur Schwärme von
Kiebitzen und Buchfinken.
    Per liebte diese Leere und die geraden Linien auf der Insel, und
nachdem der Verkehr hinter Borgholm merklich nachließ, gab er Gas.
    Der Saab dröhnte in Richtung Norden durch die weite, offene
Landschaft, vorbei an Wäldchen und Windmühlen – es war, als würde man durch ein
Ölgemälde fahren. Ein Frühlingsbild. Die grünen und braunen Flächen, die enorme
Kristallkuppel des Himmels und der Sund im Westen. Der war nach wie vor mit
dunkelblauem Eis bedeckt, aber es sah dünn aus, und weiter draußen waren Risse
und Spalten zu sehen. Bald würden die Wellen die letzten Schollen davontragen.
    »Ist das nicht wunderschön?«, sagte Per.
    Jesper, der auf dem Beifahrersitz saß, sah kurz von seinem Gameboy
auf.
    »Wo denn?«
    »Hier«, sagte Per. »Hier auf der Insel ... überall.«
    Jesper warf einen Blick aus dem Fenster und nickte, aber Per
entdeckte in den Augen seines Sohnes nicht dieselbe Freude, die er empfand. Er
versuchte es sich mit Jespers Jugend zu erklären, dass man als Teenager eben
keinen Blick für die Natur und deren Schönheit hat. Vielleicht erforderte es
ein bestimmtes Lebensalter oder eine starke Wehmut und Trauer, um sich für die
Seele einer Landschaft zu erwärmen.
    Oder lag es an Jesper? Vielleicht war mit ihm etwas nicht in
Ordnung. Wünschte er sich insgeheim, dass Nilla neben ihm säße, fröhlich und
erwartungsvoll? Dass Jesper im Krankenhaus untersucht würde?
    Er schob den Gedanken beiseite. Dachte stattdessen an den Frühling,
Frühling auf der Insel.
    Per war das erste Mal Ende der Fünfzigerjahre auf die Insel
gekommen, zusammen mit seiner Mutter Anita. Es war im Sommer 1958 gewesen, zwei
Jahre nach ihrer Scheidung, sie hatten zu wenig Geld, um große Reisen
unternehmen zu können. Jerry hätte eigentlich Unterhalt zahlen sollen, war
dieser Verpflichtung aber nur ab und zu nachgekommen. Anita hatte ihrem Sohn
allerdings erzählt, dass Jerry einmal in seinem dicken Auto an ihrem Reihenhaus
vorbeigefahren war, ein Geldbündel gegen die Eingangstür geworfen hatte und
dann wieder abgezogen war.
    Der ständige Geldmangel bedeutete für die beiden, dass sie nur kurze
und günstige Urlaube machen konnten, am besten in der näheren Umgebung von
Kalmar. Glücklicherweise lebte Anitas Cousin Ernst Adolfsson allein in einem
kleinen Häuschen auf Öland, und Per und sie waren in den Ferien immer
willkommen. Sie setzten mit der Fähre über und durften so lange bleiben, wie
sie wollten.
    Per hatte es geliebt, in dem stillgelegten Steinbruch unterhalb von
Ernsts Haus zu spielen. Für einen neunjährigen Jungen war das ein Paradies
voller Geschichten und Abenteuer.
    Ernst hatte weder eigene Kinder noch Geschwister gehabt, und als er
vor ein paar Jahren starb, hatte das Kind seiner Cousine das Häuschen geerbt.
Im vergangenen Sommer hatte Per alles geputzt und instand gesetzt und hatte nun
vor, den Sommer über dort zu wohnen. Vielleicht sogar das ganze Jahr. Weil das
Geld auch bei ihm zu knapp war, um zwei Unterkünfte zu finanzieren, hatte er
seine Wohnung in Kalmar bis Ende September untervermietet.
    Seine beiden Kinder sollten ihn in den Sommerferien so oft besuchen
kommen, wie sie wollten. So hatte Pers Plan zumindest ausgesehen. Aber Nilla
hatte ihr Schuljahr in der siebten Klasse als müde und teilnahmslose Schülerin
begonnen und war im Laufe des Herbstes immer erschöpfter geworden. Der
Schularzt hatte den Zustand mit der Pubertät erklärt, mit Wachstumsschmerzen,
aber nach Silvester hatte Nilla zusätzlich über Schmerzen in ihrer linken Seite
geklagt. Und die Beschwerden hatten
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