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Blutstein

Blutstein

Titel: Blutstein
Autoren: Johan Theorin
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eine
Mullbinde um den Kopf gebunden, damit der Kiefer geschlossen blieb, wenn die
Leichenstarre einsetzte.
    Torsten hatte genau gewusst, was mit ihm nach seinem Tod geschehen
würde. Dessen war sich Gerlof sicher, schließlich hatte Torsten sein Leben lang
als Friedhofswärter und Totengräber gearbeitet. In einem der vielen Särge, die
er unter die Erde gebracht hatte, hatte sogar einmal ein Mörder namens Nils
Kant gelegen. Aber in der Regel hatte er Gräber für normale Inselbewohner
ausgehoben.
    Tagein, tagaus hatte er diese Arbeit verrichtet, wenn nicht zu viel
Schnee lag oder Minusgrade unter zehn herrschten. Besonders im Frühling war das
Graben beschwerlich gewesen, hatte er Gerlof einmal erzählt, weil der
Bodenfrost auf Öland so lange anhielt. Aber nicht etwa die physische
Anstrengung hatte ihm am meisten zugesetzt: An den Tagen, an denen er das Grab
für ein verstorbenes Kind ausheben musste, war es ihm furchtbar schwergefallen,
aufzustehen und ans Werk zu gehen.
    Schon bald würde er in sein eigenes Grab hinabgesenkt werden. In
einer Urne – Torsten wollte eingeäschert werden.
    »Ich lasse mich lieber verbrennen, als dass meine Knochen in der
Erde bleiben und durch die Gegend fliegen«, hatte er gesagt.
    Früher war das anders, dachte Gerlof. In seiner Jugend gab es weder
Leichenbestatter noch Bestattungsinstitute, die sich um alles kümmerten, wenn
ein Angehöriger gestorben war. Früher starb man in seinem eigenen Bett, und ein
Familienmitglied zimmerte den Sarg.
    Da fiel Gerlof eine alte Familiengeschichte ein. Anfang des 20 . Jahrhunderts
lebten seine frisch verheirateten Eltern in einem umgebauten Sommerhaus in
Stenvik. Eines Nachts wurden sie von merkwürdigen Geräuschen auf dem Dachboden
geweckt. Es klang, als würde jemand die übrig gebliebenen Bretter durch die
Gegend schieben, die Gerlofs Vater dort gelagert hatte. Als er jedoch nachsehen
ging, war der Dachboden verlassen und alles still.
    Aber kaum war sein Vater wieder im Schlafzimmer angekommen, begann
der Lärm von Neuem.
    Gerlofs Eltern hatten regungslos in der Dunkelheit gelegen und
angsterfüllt den unheimlichen Geräuschen gelauscht.
    Als Gerlof seinen Kaffee ausgetrunken hatte, kamen die Leichenbestatter
mit der Bahre zurück. Er konnte sehen, dass jetzt ein Körper darauf lag,
verborgen unter den Decken und festgehalten von den Ledergurten. Leise und
zügig wurde er vorbeigefahren.
    Adieu, Torsten ,
dachte Gerlof.
    Kaum hatten die Leichenbestatter das Altersheim durch den
Haupteingang verlassen, schob Gerlof seinen Stuhl nach hinten.
    »Zeit zu gehen«, verkündete er seinen Tischnachbarn.
    Dann erhob er sich langsam mithilfe seines Stockes. Er biss die
Zähne zusammen, als die rheumatischen Schmerzen sich in den Beinen meldeten.
Bedächtig lief er den Gang hinunter zum Büro der Heimleiterin.
    Seit Wochen schon hatte Gerlof sich so seine Gedanken gemacht, genau
genommen seit seinem letzten Geburtstag. Da war ihm bewusst geworden, dass es
nicht mehr weit war bis zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag. Die Zeit
verrann so schnell – ein Jahr in seinem Alter verging genauso rasch, wie früher
eine Woche verstrichen war, als er noch ein junger Mann war. Und jetzt, nach
Torstens Tod, hatte er endgültig den Entschluss gefasst.
    Vorsichtig klopfte er gegen die Tür von Boels Büro und öffnete sie,
als die Heimleiterin antwortete.
    Boel saß am Computer und erledigte Papierkram. Gerlof blieb
schweigend auf der Türschwelle stehen. Nach einer Weile hob sie den Kopf.
    »Geht es Ihnen gut, Gerlof?«
    »Ja.«
    »Was gibt es denn? Haben Sie etwas auf dem Herzen?«
    Er holte tief Luft.
    »Ich muss hier weg.«
    Boel schüttelte langsam den Kopf.
    »Gerlof ...«
    »Es ist bereits entschieden«, unterbrach er sie.
    »Ach ja?«
    »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen ...« Gerlof registrierte,
dass Boel mit den Augen rollte, fuhr aber unbeirrt fort: »Meine Eltern
heirateten 1910 .
Sie übernahmen einen kleinen umgebauten Hof, der seit vielen Jahren leer stand.
In ihrer ersten Nacht hörten sie merkwürdige Geräusche auf dem Dachboden ... es
klang, als würde jemand die Bretter hin und her bewegen, die mein Vater dort
oben aufgestapelt hatte. Sie fanden keine Erklärung für den Lärm, aber am
nächsten Morgen stand der Nachbar vor der Tür.«
    Er machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: »Der Nachbar erzählte,
dass sein Bruder in der vergangenen Nacht gestorben sei. Und er bat meinen
Vater um Bretter, um daraus einen Sarg
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