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Blutstein

Blutstein

Titel: Blutstein
Autoren: Johan Theorin
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zimmern zu können. Mein Vater ließ ihn
auf den Dachboden gehen und die passenden Bretter auswählen. Als meine Eltern
in der Küche saßen und das Geklapper vom Dachboden hörten, erkannten sie die
Geräusche wieder ... Sie waren identisch mit denen der vergangenen Nacht.«
    Es wurde still im Raum.
    »Ja, und?«, fragte Boel schließlich.
    »Das war eine Ankündigung. Die Ankündigung eines nahenden Todes.«
    »Ja, Gerlof, das war eine schöne Geschichte ... Aber worauf wollen Sie
hinaus?«
    Er seufzte.
    »Ich will darauf hinaus«, sagte er, »dass es mein Sarg sein wird,
der als Nächstes gezimmert werden muss, wenn ich länger hierbleibe. Ich habe
schon das klappernde Geräusch von Holzbrettern gehört. Und das Rattern des
Leichenwagens.«
    Boel schien aufzugeben.
    »Und was haben Sie vor? Wo wollen Sie hin?«
    »Nach Hause«, antwortete Gerlof. »In mein Haus nach Stenvik.«
    2
    D u
    stirbst? Wer hat gesagt, dass du stirbst, Papa?«
    »Ich selbst!«
    »Das ist doch lächerlich! Du hast noch viele Jahre vor dir ... viele
Frühlinge«, widersprach Julia Davidsson und fügte hinzu: »Außerdem hast du es
gerade geschafft, lebend ein Altersheim zu verlassen – wie vielen gelingt das
wohl?«
    Gerlof erwiderte nichts, musste aber unwillkürlich an die stählerne
Bahre mit Torsten Axelssons Körper denken. Und er blieb schweigsam, während
seine Tochter den Wagen hinunter zur Küste bis zur Ortseinfahrt von Stenvik
steuerte.
    Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe und weckte seine
Sehnsucht nach Schmetterlingen und Vögeln und allem anderen, was die Frühlingswärme
mit sich bringt. Die Lebenslust in seiner Brust hob ihren schläfrigen Kopf und
blinzelte überrascht. Er musste sich beinahe anstrengen, um mürrisch zu
klingen, als er schließlich etwas sagte:
    »Nur Gott allein weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, und er lässt
sie viel zu schnell vergehen ... aber wenn ich schon sterben soll, dann hier in
meinem Heimatort.«
    Julia seufzte. Sie hielt den Wagen am Rand der menschenleeren
Hauptstraße von Stenvik an und schaltete den Motor aus.
    »Du liest zu viele Todesanzeigen.«
    »Stimmt. Aber die Zeitungen leben davon.«
    Gerlof hatte sich mit Letzerem einen Scherz erlauben wollen, aber
Julia lachte nicht, sondern half ihm nur schweigend beim Aussteigen.
    Langsam gingen sie auf das Gartentor des Sommerhauses der Familie
Davidsson zu, das in einem kleinen Wäldchen in Stenvik lag, nur einige Hundert
Meter vom Meer entfernt.
    Zwar würde er die meiste Zeit allein sein, darüber war sich Gerlof
vollkommen im Klaren, aber dafür bliebe er wenigstens vor den Krankheiten im
Altersheim verschont. Die anderen Mitbewohner mit ihren zahllosen Tabletten,
Sauerstoffschläuchen und dem ständigen Gerede über Gebrechen waren ihm langsam
auf die Nerven gegangen. Und seiner ehemaligen Geliebten Maja Nyman ging es
auch immer schlechter, die meiste Zeit lag sie im Bett.
    Fast einen Monat hatte es gedauert, Boel und die anderen im Vorstand
davon zu überzeugen, Gerlof zurück in sein Haus nach Stenvik ziehen zu lassen.
Aber schließlich hatten sie aufgegeben und eingesehen, dass er dadurch den
Platz für einen neuen Heimbewohner freigab, der gerne im Altersheim aufgenommen werden
wollte. Gerlof würde zwar weiterhin Hilfe benötigen, eine Putzfrau,
medizinische Versorgung und Essen auf Rädern, aber das würde sich ohne Weiteres
mit Krankenschwestern und Haushaltshilfen bewerkstelligen lassen.
    Gerlof war vollkommen klar im Kopf, obwohl er sich an manchen Tagen
kaum bewegen konnte. Seinem Hirn und seinen Zähnen fehlte nichts – nur die
Arme, Beine und der Rest des Körpers hätten eine Grundrestaurierung nötig.
    Es war Ende März, und Gerlof betrat zum ersten Mal in diesem Jahr
seinen Heimatort an der Küste, in dem er geboren und aufgewachsen war. Er war
zurückgekehrt auf den Grund und Boden, der seit Jahrhunderten im Besitz der
Familie Davidsson war und den seine Eltern noch bewirtschaftet hatten. Und er
war zurück in seinem Häuschen, das er für sich und seine Frau Ella vor etwa
fünfzig Jahren gebaut hatte. Stenvik war sein Hafen gewesen in den vielen
Jahren auf See.
    Der Schnee war fast überall geschmolzen und hatte eine weiche
Grasfläche freigelegt, die dringend geharkt werden musste.
    »Grün und Laub vom letzten Jahr«, sagte Gerlof. »Was im Winter
verborgen war, kommt jetzt wieder zum Vorschein.«
    Während sie über das verblichene Gras gingen, klammerte er sich fest
an Julias Arm. Als sie aber die
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