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Blutspuren

Blutspuren

Titel: Blutspuren
Autoren: Hans Girod
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Kerlchen, und seine zwei Jahre jüngere Schwester Sabine tummeln sich in den kühlenden Fluten, erproben Schnorchel und Taucherbrille, während die Eltern auf der Liegewiese sich ihrer Lektüre und den bräunenden Sonnenstrahlen hingeben. Die Mutter, Manuela Teige (32), Stenotypistin im VEB Anlagenbau, hat bereits seit einigen Tagen Urlaub. Nur der Vater, Karsten Teige (33), Diplomingenieur im VEB Kombinat ORSTA-Hydraulik, muß noch eine lange Woche am Zeichenbrett stehen, ehe sein lang ersehnter Jahresurlaub beginnt. Und weil er am nächsten Morgen bereits vor dem ersten Hahnenschrei aus den Federn muß, drängt er kurz nach 17.00 Uhr zum Aufbruch. Der Widerspruch der Kinder verfliegt schnell, denn nun entgeht ihnen das abendliche Fernseh-Sandmännchen nicht. Gut gelaunt begibt sich die glückliche Familie Teige auf den Heimweg. Unterwegs eine freudige Überraschung: Als sie nämlich am Konsum Ecke Wiederitzschstraße vorbeigehen, bemerken sie, daß Mitarbeiter der GHG Obst und Gemüse gerade einige Kisten von einem Lieferfahrzeug abladen und im Ladeninneren verstauen. Der Inhalt der Kisten: Bananen. Eine Delikatesse mit hohem Seltenheitswert. Die Eltern vermuten richtig, daß der sozialistische Einzelhandel die exotischen Raritäten am nächsten Tag verkaufen wird. Die Kinder betteln: »Mama, wir wollen Bananen!« Frau Teige kann diesen Wunsch aber nur erfüllen, wenn sie sich morgen früh rechtzeitig der üblichen Warteschlange anschließt. Doch der kleine Michael erklärt sich prompt bereit, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. In freudiger Erwartung klingt so der schöne Familiensonntag aus.
    Daheim kümmert sich Manuela Teige um das Abendessen und versorgt die Kinder. Karsten Teige erledigt unterdessen seine abendlichen Gartenarbeiten: Zierrasen und Blumen erhalten ihre Wasserration, Terrassenmöbel und Geräte werden zusammengestellt, die selbstgebaute Hollywoodschaukel verschwindet unter einer Abdeckplane, Türen, die ins Haus führen, werden sorgfältig verriegelt. Kurz nach 20.00 Uhr sinken Michael und seine kleine Schwester in ihre Betten und schlafen alsbald ein. An diesem Abend bleibt der Einschaltknopf des elterlichen Fernsehers unberührt. Zwei Stunden später verlöschen alle Lichter im Haus. Denn auch Manuela Teige und ihr Gatte haben sich zur Nachtruhe zurückgezogen.
    Jedoch: Niemand ahnt, daß der Tod bereits in der Nähe lauert und am nächsten Tag unermeßlichen Schmerz, Trauer und ohnmächtige Wut bereithält. Nichts wird mehr so sein wie bisher. Doch noch träumen die Teiges arglos in den nächsten Morgen.
    Montag, der 10. Juli 1972. Karsten Teige verläßt bereits um 6.00 Uhr das Haus. Auf leisen Sohlen, wie immer, wenn er zur Frühschicht muß. Niemand aus der Familie soll seinetwegen geweckt werden. Um 7.30 Uhr erwacht Manuela, absolviert die Morgentoilette und bereitet das Frühstück. Eine halbe Stunde später sind die Kinder munter. Allerdings: Michael fühlt sich abgeschlagen, klagt über Bauchweh, verschmäht das Frühstück. Die Mutter mutmaßt, er könne sich beim gestrigen Baden erkältet haben. »Am besten, du legst dich wieder hin«, rät sie. Doch Michael wehrt ab: »Nein, nein, ich will Bananen holen.«
    Als er einen Einkaufbeutel nimmt, Geld verlangt und fragt: »Kann ich das Fahrrad nehmen?« ist Manuela beruhigt, mißt dem Befinden ihres Großen keine weitere Bedeutung bei, vermutet eine belanglose, schnell flüchtige Unpäßlichkeit, wie sie in diesem Alter schon mal vorkommen kann.
    Der Junge bugsiert mühevoll das eiserne Gefährt aus dem Keller und fährt davon. Doch nach wenigen Minuten ist er zurück, das Gesicht bleich wie eine Kalkwand. Er fühlt sich so schlapp, daß seine Kräfte versagen, als er das Fahrrad in den Keller tragen will.
    »Mir ist schlecht, ich muß aufs Klo«, klagt er.
    Manuelas Besorgnis ist prompt zurückgekehrt. Kurzerhand klappt sie das Wandbett des im Parterre gelegenen Gästezimmers auf, löst die textilen Gurte, mit denen Matratze und Decke fixiert werden, läßt die Jalousien herunter, entkleidet den Jungen und steckt ihn ins Bett.
    Ohne Widerstand läßt er es geschehen, fragt aber: »Und die Bananen?«
    »Bleib nur liegen, ich gehe mit Sabine zum Konsum. Wir sind bald zurück«, erklärt sie. Michael verspricht, unterdessen brav im Bett zu bleiben und sich auszukurieren.
    Eine halbe Stunde später. Die Mutter sieht noch einmal nach ihm. Alles ist in Ordnung. Der Junge ist bis zum Kinn in die Decke eingemummelt und schläft.
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