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Blutrot

Titel: Blutrot
Autoren: Jack Ketchum
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unter den Hund.
    Er fühlte sich sehr schwach und hoffte, dass noch genügend Energie in ihm steckte, damit er sich nicht verlief und irgendwo im Wald zusammenbrach. Er musste bis zum Haus durchhalten und der Mutter Bescheid sagen, dass ihr verletzter Sohn hier lag.
    Er hob den Hund vom Felsen auf. Einen Moment lang verspürte er eine eigentümliche Klarheit in seinen Gedanken und Empfindungen. Eine Klarheit, die ihn genauso plötzlich überkam wie der Phantomschmerz, der ihn auf dem Weg hierher immer wieder befallen hatte. Da wusste er, was sich erst viele Tage und Wochen später bestätigen würde: dass in seinem Inneren etwas geschah, was er nicht vorhergesehen hatte. Dass er und der Hund jetzt in gewisser Weise eins waren, dass sie denselben Geist besaßen, einen Geist, der zugleich lebendig, aber nicht nur lebendig, und tot war, aber nicht nur tot. Sie waren beide Teil eines ewigwährenden Prozesses, der unbarmherzig und unabänderlich war, der jenseits aller Zivilisation, allen Wissens über das Leben und des menschlichen Verstandes lag. Er wusste, dieser Erkenntnis konnte er nur mit Güte beikommen, und damit war er zufrieden.

    Auf einmal stand die Frau auf der Lichtung.
    Er sah sie und sank auf die Knie. Alle Kraft war ihm entwichen.
    Die Lichtung verschwamm vor seinem Blick. Seine Arme fühlten sich kalt und hohl an. Er schloss die Augen. Ihm schien, als ob er von einer der alten Eichen aus, die sie umgaben, auf sich selbst herabblickte: wie er im Mondschein dort kniete, einer Frau zugewandt, die früher schön gewesen war, ihn nun aber nur entsetzt und gequält anstarrte, während er ihr den Hund auf seinen Armen darbot wie eine Opfergabe, als sei die Frau die Mutter der Erde und des hohen Grases, in dem er kniete. Die traurige, gebrochene Mutter der Schöpfung.
    »Hilf mir«, sagte er.

TEIL VIER
    GENERATIONEN

31
    Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wartete seine Tochter mit einem Rollstuhl auf ihn. Er hatte keine Lust, sich durch die Gegend schieben zu lassen. Zehn Tage unbeweglich auf dem Rücken zu liegen war genug, aber Allie bestand darauf. Ludlow gab nach. Das zumindest war er ihr schuldig. Sie war extra aus Boston hergeflogen, um vom Morgen seiner Einlieferung an jeden Tag stundenlang an seinem Krankenbett zu sitzen, Kreuzworträtsel zu lösen und mit ihm zu reden.
    Das einzig Gute, das bei der Sache herausgekommen war, war der Umstand, dass er seine Tochter jetzt neu kennenlernte.
    Sie schob ihn hinaus in die helle Nachmittagssonne. Auf halbem Weg zum Wagen sagte sie, sie müsse ihm etwas beichten. Sie hätte ihm etwas vorenthalten.
    »Wie meinst du das, du hast mir etwas vorenthalten?«
    »Ich bin schwanger, Dad.«

    »Wirklich?«
    »Mhm. Im zweiten Monat. Du wirst Großvater.«
    Ludlow musste sich zusammenreißen, um nicht vor Freude aus dem Rollstuhl zu springen.
    »Das ist ja wundervoll, Allie!«
    »Das finden wir auch.«
    »Schwanger. Verdammt, da sollte ich eigentlich dich schieben.«
    Sie lachte.
    »Wirklich, Allie: Das ist wundervoll.«
    Er griff hinter sich und tätschelte ihre Hand.
    »Ich habe extra bis zu deiner Entlassung damit gewartet. Ich wollte es dir nicht im Krankenhaus erzählen. Es sollte etwas Besonderes sein. Du solltest es im Sonnenschein erfahren.«
    »Du hast recht. Es ist etwas ganz Besonderes. Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
    »Wir wollen es gar nicht wissen. Es ist uns egal. Hauptsache, das Baby ist gesund.«
    »Ich freue mich so für euch, wirklich. Ich wünschte, deine Mutter könnte das noch erleben.«
    »Ich auch.«
    In den letzten Tagen, nachdem er sich von der schweren Gehirnerschütterung erholt hatte und die stärksten Schmerzmittel abgesetzt worden waren, hatten sie viel von Mary gesprochen. Wie sie sich kennengelernt hatten, wie er sie umworben und schließlich geheiratet hatte. Die Gespräche vertrieben
ihnen die Zeit und brachten sie einander näher. Sie redeten über Allies und Tims Kindheit.
    Sie sprachen sogar über die Morde.
    Das hatten sie noch nie getan.
    Ihm gefiel, dass sie Billy mit keinem einzigen Wort erwähnte. Vielleicht waren sie dem endlich entwachsen.
    Eines Nachmittags hatte sie seinen Vater aus Pinewood heraufgeholt, damit der ihn im Krankenhaus besuchen konnte. Der alte Herr wollte genau wissen, was sich in jener Nacht zugetragen hatte, und lauschte, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Als der Bericht endete, sagte er: Das hast du gut gemacht, Junge. Ich wusste gar nicht, dass du so ein zäher
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