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Blutrot

Titel: Blutrot
Autoren: Jack Ketchum
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weiterzugehen. Vielleicht barg sie die Seele eines finsteren Gottes oder Geistes, wen interessierte das schon? Und doch tat er
den ersten Schritt. Es war eine Mutprobe, die er sich selbst stellte, ein den Göttern und Geistern hingeworfener Fehdehandschuh. Er erinnerte sich, wie er mit dem nackten Fuß nach dem Boden tastete und ihn zu seiner Überraschung auch fand - anstatt eines gähnenden Abgrunds. Dann machte er den zweiten Schritt und war für seinen Freund augenblicklich und vollständig verschwunden. Als hätte er sich in Nichts aufgelöst.
    Einen Moment lang blieb er reglos stehen und hoffte, seine Augen würden sich an die Dunkelheit gewöhnen.
    Sie taten es nicht.
    In der Höhle herrschte absolute Stille.
    Er ging einen Schritt weiter und hörte, wie sich in der Dunkelheit etwas regte, irgendwo an der hinteren Wand, vielleicht fünf Meter von ihm entfernt. Etwas, das, wie er instinktiv spürte, groß war, größer als er. Er spürte, wie das blanke Entsetzen ihn packte, schrie auf und rannte in die äußere Höhle zurück. Dort sah er, dass sein Freund schon halb hinausgeklettert war. Er stürmte hinter ihm her und kraxelte hastig die steilen Klippen hinab, als würden Dämonenklauen nach seinen Fußknöcheln greifen und versuchen ihn zurückzuzerren.
    Als er später mit seinem Freund darüber sprach, kamen sie überein, dass in der Höhle ein Mensch gehaust haben musste.
    Nur ein Mensch.
    Kein Wolf oder Bär oder wilder Hund. Denn ein Tier hätten sie wahrscheinlich gerochen, bevor sie es hörten.
Und in der Höhle hatte es keinen solchen Geruch gegeben. Er versuchte sich das Geräusch zu vergegenwärtigen, das er vernommen hatte. Er glaubte, dass es der Klang von über den Felsboden schleifender Kleidung gewesen war.
    Er nahm an, dass es ein Mensch war. Dass das Ganze vermutlich längst nicht so gefährlich gewesen war, wie er es sich eingebildet hatte.
    Aber sicher war er sich dabei nicht. Nun stellte er sich vor, wie der Mann lautlos dagestanden und sie beobachtet hatte. Wie er sie im hellen Höhleneingang stehen sah, während sie praktisch blind waren und ihn in der Dunkelheit nicht ausmachten. Er fragte sich, was für ein Mann es wohl gewesen sein mochte? Er dachte an die Knochen auf dem Boden und an den Feuergeruch. Was die Gefahr der Situation betraf, hatte er sich wohl getäuscht.
    Nie wieder hatte er solche Angst wie an jenem Nachmittag in der Felshöhle. Nicht einmal in Korea unter heftigstem Beschuss, inmitten der Toten und derer, die bald tot sein würden. Es war, als wäre er sich schon als kleiner Junge seiner Sterblichkeit bewusst geworden, als hätte er an jenem Nachmittag dem Tod ins Auge geblickt.
    Der Tod war die bewohnte Dunkelheit.
    Verglichen mit damals lief er jetzt durch hellen Sonnenschein. Unter einem hinter Wolken verborgenen Mond.
    Wenigstens konnte er die Hände vor Augen sehen.

    Der Mond war ein Janus-Mond.
    Janus. Gott der Tore, der Ein- und Ausgänge.
    Wir gehen hindurch.
    Er sah, was er real noch nie gesehen hatte, was er sich bisher immer nur dunkel und unter Schmerzen vorgestellt hatte: Mary an der Haustür, sie stürzte nach draußen, umhüllt von Flammen wie schimmernde blaugelbe Wellen, in denen sie ertrank. Er sah, wie sie sich im Gras wälzte, roch den Rauch und ihr brennendes Fleisch, sah, wie sie wieder auf die Beine kam, ins Haus zurücktaumelte, ein letztes Mal in vergeblicher Hoffnung, instinktiv, aus Liebe zu ihrem Jüngsten.
    Es war so ungerecht, Mary, dachte er. Gott, es war so ungerecht.
    Er ging weiter.
    Es war kühler geworden. Er spürte den Wind im Gesicht.
    Der Schmerz durchfuhr ihn wie eine Messerklinge, die durch weiche Butter schneidet.
    Nach einer Weile kam wieder der Mond heraus.
    Ludlow merkte, dass er kein Zeitgefühl mehr hatte. Die Wolken mochten den Mond für einige Minuten verborgen haben, vielleicht auch für einige Stunden. Er wusste es nicht mehr.
    Er spürte, wie die schwere Waffe in seiner Hosentasche hin- und herschlenkerte, griff hinab und tastete durch den Stoff ihre Form ab. Er wusste, wie die Waffe dort hingelangt war. Sie hatte ihn im Wald
zu sich gerufen. Er hatte sich gebückt und sie aufgehoben.
    In der Ferne erblickte er das fahle mattweiße Haus oben auf dem Hügel. So wie es dort stand, sah es aus wie eine Kirche ohne Kirchturm. Aber er wusste, dass es keine Kirche war, sondern ein Ort, der ihm beinahe den Tod gebracht hätte und zu dem auch er selbst in seinen Armen den Tod getragen hatte.
    Die bewohnte Dunkelheit.
    Er
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